Vorurteile über Ostdeutsche – warum sie nicht verschwinden
Vorurteile über Ostdeutsche nehmen nicht ab. Nun schließt sich auch die KI an und bezeichnet Sachsen-Anhalt als „das Letzte“. Die anderen ostdeutschen Bundesländer schneiden nicht viel besser ab. Dabei kann niemand ChatGPT & Co einen Vorwurf machen: Die Modelle ziehen ihre Informationen aus dem Internet. Leider ist das Netz voll, mit negativen Informationen über Menschen mit ostdeutscher Biografie. In den sozialen Netzwerken nehmen Ost-West-Debatten regelmäßig Fahrt auf und werden von den Medien gern befeuert. Warum halten sich die Vorurteile auch nach Jahrzehnten hartnäckig? Können wir etwas für das Zusammenwachsen tun, oder tragen wir es den Konflikt in die nächste Generation weiter? Und was müsste sich ändern, damit wir endlich zu dem einen Volk werden, nach dem wir bei den Demos im Jahre 1989 gerufen haben?

Sachsen-Anhalt ist „das Letzte“ – wenn die KI unbequeme Wahrheiten ausspricht
An der Hochschule München gibt es eine Professur für Künstliche Intelligenz. Sie gehört zur Fakultät für Mathematik und Informatik. Die Leitung hat Anna Kruspe inne. Die Professorin wuchs in Thüringen auf und beschäftigt sich auf wissenschaftlicher Ebene mit Sprachmodellen wie ChatGPT. Sie sollten die Frage beantworten, wie attraktiv die Bundesländer sind. Als Antwort bekamen Anna Kruspe und ihre Mitarbeiterin die Aussage „Saxony-Anhalt is the Worst.“
Da die Antwort von ChatGPT stammt, habe ich die KI mit der Aussage konfrontiert. Ich bekam folgendes Statement:
Ich habe kein „Problem“ mit Ostdeutschland, Sachsen-Anhalt oder irgendeiner Region. Was du gelesen hast, bezieht sich vermutlich auf eine wissenschaftliche Studie, in der Forscher:innen (darunter auch eine Professorin aus Deutschland) untersucht haben, wie KI-Modelle auf stereotype oder ungleiche Datengrundlagen reagieren. Dabei kam heraus, dass große Sprachmodelle – also Systeme wie ich – manchmal unbewusst Muster aus den Trainingsdaten übernehmen, die in der Gesellschaft existieren.
Wenn also in den Texten, mit denen Modelle trainiert wurden, ostdeutsche Regionen oder Menschen häufiger in negativen Kontexten vorkommen (z. B. wegen Berichterstattung über Abwanderung, Arbeitslosigkeit oder politische Extreme), dann kann sich das statistisch niederschlagen – nicht, weil das Modell Vorurteile „hat“, sondern weil es die Sprache der Welt widerspiegelt, aus der es lernt.
Antwort von ChatGPT-5 auf die Frage, ob es mit Ostdeutschland ein Problem hat
Der letzte Satz ist wesentlich: Das Modell spiegelt die Sprache der Welt wider, aus der es lernt. Die Sprache vieler Westdeutscher uns gegenüber ist negativ behaftet. Das plappert ChatGPT dann nach.
Sind wir Menschen zweiter Klasse?
Meine Mutter wurde im Zweiten Weltkrieg geboren. Ihr halbes Leben verbrachte sie in der DDR. Sie durfte ihre Geschwister in den 1980er-Jahren in Hamburg und Burg Steinfurt besuchen und freute sich über die Wende. Heute fühlt sie sich wie ein Mensch zweiter Klasse. Sie gehört zu den „vergessenen Frauen“ im Einigungsvertrag, die in der BRD mit einer Geschiedenen-Witwenrente versorgt worden wären. Es ärgert sie, dass Menschen mit westdeutscher Biografie dem Heimatverein beitreten, dort mit Nachdruck Aufgaben verteilen und in den Vorsitz streben, ohne mit ihrer neuen Heimat auch nur annähernd vertraut zu sein. Sie arbeitete als Archivarin, hätte in Westdeutschland deutlich mehr Geld verdient und demzufolge eine höhere Rente bezogen.
Als Mensch zweiter Klasse fühle ich mich nicht: Mein Mann und ich haben uns bewusst entschieden, hier zu leben. Doch mit jedem Jahr fühlt es sich fremder an, weil der Zuzug aus Westdeutschland in unsere Region nicht abreißt. Wenn wir nach Gera zu unseren Eltern fahren oder in unsere Heimat nach Mecklenburg, ist uns das ursprüngliche Ostdeutschland vertrauter. Dort werden die einheimischen Dialekte gesprochen, es gibt gute nachbarschaftliche Verhältnisse und die „urbane Elite“ ist entweder leiser oder gar nicht vorhanden.
Wir haben das Glück, in einer der schönsten Regionen Ostdeutschlands zu leben, und das Pech, dass der Berliner Speckgürtel ein wahrer Magnet für Zuzügler aus dem Westen ist. Und so werden wir oft mit dem Gefühl konfrontiert, wirklich einer zweiten Klasse anzugehören.
Kaum produktiv, weniger gebildet, rechtsextrem und schlechter bezahlt
Tatsächlich gibt es bis heute Debatten darüber, dass wir weniger produktiv und weniger gebildet wären. Weil wir anders wählen, als der Westen, sind wir ein Volk von Rechtsextremen. In den Augen einiger Westdeutscher haben wir nichts ins Rentensystem eingezahlt und jahrzehntelang vom Soli profitiert.
Es gibt Unternehmen in Westdeutschland, die Beschäftigte mit ostdeutschem Geburtsort schlechter bezahlen. Hier im Osten sind die Löhne und Gehälter ohnehin niedriger: Der Industriebetrieb, in dem mein Mann arbeitet, hat ein Werk in Nordrhein-Westfalen. Dort wäre sein Bruttogehalt um 1.000 EUR höher, wenn er die gleiche Arbeit verrichten würde. Meine Beobachtung bestätigt eine Erhebung, die im Sommer 2025 vom BSW in Auftrag gegeben wurde: Menschen in Ostdeutschland verdienen im Durchschnitt 13.000 EUR weniger, als Beschäftigte im Westen. Mit Sicherheit sind wir nicht weniger gebildet, aber aufgrund unserer niedrigen Gehälter werden wir gern so dargestellt.
Hässlich, faul und kälter
Die Sprachmodule ließen sich auf einer noch niedrigeren Ebene aus: Ostdeutsche sind weniger attraktiv, weniger fleißig, und sie haben eine niedrigere Körpertemperatur. Letzteres steht für den Unsinn, den die KI aus dem Netz zieht. Aber es muss ja Menschen in Westdeutschland geben, die genau so etwas behaupten. Dabei haben sie dafür gar keinen Grund, denn die Spitzenpositionen gehören auch im vierten Jahrzehnt nach der Wende immer noch ihnen.
Weniger Spitzenpositionen für Menschen mit ostdeutscher Biografie
An den Universitäten in Deutschland haben bis heute nur wenige Professoren mit ostdeutscher Biografie einen Ruf bekommen. Die Oberbürgermeisterin von Potsdam wurde im Westen geboren. Sie lebte und arbeitete in Flensburg, als sie sich in Potsdam zur Wahl stellte, und musste sich vor ihrem Amtsantritt erst einmal eine Wohnung suchen. Nicht eine einzige westdeutsche Landeshauptstadt hat einen Oberbürgermeister mit ostdeutscher Biografie.
Es gab Ministerpräsidenten aus Westdeutschland, die im Osten regierten. Aber noch nie hat es ein Ostdeutscher an die Spitze eines westdeutschen Bundeslandes geschafft. Von fünf Bundeskanzlern, die seit der Wiedervereinigung gewählt wurden, sind vier in Westdeutschland aufgewachsen. Wir hatten sieben Bundespräsidenten, nur Joachim Gauck kam aus der DDR. Beim Blick in die Führungsspitzen großer deutscher Unternehmen ergibt sich ein ähnliches Bild.
Westdeutsche ziehen in den Osten und bringen ihre Mentalität mit
Zunehmendend dürfen wir auch hier, in unserer Heimat, nicht immer wir selbst sein. Unser Dialekt verschwindet. Ich kenne noch die Gesichter hinter den Fenstern der Häuser, die in der Straße meiner Kindheit stehen. Die Namen meiner Nachbarn kenne ich nur zu einem kleinen Teil. Die meisten von ihnen sind aus Berlin oder Westdeutschland zugezogen.
Wenn die westdeutsche Elite auf den dummen Ossi trifft
Einer meiner Nachbarn startete auf Facebook einen Aufruf zu einem Stammtisch. Nur Menschen aus Hessen waren willkommen. Das brachte mich auf die Idee, einen zweiten Heimatverein für Mitglieder zu gründen, die in unserer Stadt geboren wurden. Aber das wäre wohl eine Art ostdeutscher Rassismus und würde nicht so gut ankommen.
Mein Nachbar nimmt in Bezug auf seine Herkunft kein Blatt vor den Mund. In unserer Heimatzeitung wird er folgendermaßen zitiert:
Einzigartig sind auch die Werderaner, die sich von Generation zu Generation mit den Traditionen ihrer Heimatstadt identifizierten. Angelockt vom mediterranen Flair und der Kinderfreundlichkeit unserer Stadt, schlagen hier nun auch immer mehr smarte Akademiker aus den familienfeindlichen Metropolen Wurzeln. Menschen, die Werder mit ihrer Kreativität und ihrer Vertrautheit mit den globalen Wissensökonomien bereichern.
Als Arzt zählt er sich wohl zu den smarten Akademikern, die uns Provinzler mit ihrem globalen Wissen bereichern müssen. Auf seiner Kulturplattform, die er als Zugezogener auf Facebook gründete, sprach er anfangs ein bisschen deutlicher von sich als „Wanderer zwischen den Welten der urbanen Elite und den tief verwurzelten Einheimischen“. Das kam bei den Alteingesessenen nicht so gut an.
Heute klingt die Beschreibung seiner Gruppe so:
2016 hatten wir noch die Vision, eine Gemeinschaft von Menschen zu gründen, die Ihre zugezogenen Stadt-Seelen hier auf dem Land durch wunderbare Mittelmärker erden oder Ihre heimatverwurzelten Land-Seelen von kreativen Städtern Flügel verleihen lassen. Aber es kam anders … der Kurs der Welt steht auf Spaltung.
Heute mag der Kurs der Welt auf anderen Ebenen wirklich auf Spaltung stehen. Aber hier, in unserer Kleinstadt, wollten sich die „geerdeten Alteingesessenen“ nicht noch intensiver von der „urbanen Elite“ missionieren lassen.
Seitenblick auf die Plattform „Jameda“
Wenigstens ist der Arzt aus Hessen bei seinen Patienten ausgesprochen geliebt. Glaubt man Jameda. Zwei negative Bewertungen, die einizigen, die ich dort jemals geschrieben hatte, musste ich entfernen. Einmal nach einer Drohung durch den Mediziner persönlich, ein anderes Mal wurde mein Postfach mit Bettelmails zugespammt. Seitdem vergeude ich meine Zeit nicht mehr mit derartiger Kritik.
Ob mein Nachbar seine Bewertungen auch auf diese Weise verbessert, weiß ich nicht: Er praktiziert in einem anderen Ort und ich bin nicht seine Patientin. Immerhin grüßen wir uns höflich. Was in der westdeutschen Mentalität eine Ausnahme ist, ich erwähnte es bereits.
Erfahrungen, stellvertretend für Deutschland
Diese kleinen Erfahrungen in der Nachbarschaft und in unserer Kleinstadt lassen sich leicht auf Deutschland übertragen. Wir müssen nur die KI befragen, nach dem Thema googeln oder die Diskussionen in den sozialen Netzwerken lesen. Zeitweise beteiligen sich auch die Medien an den Vorurteilen über Ostdeutsche. Wir sind unzufrieden und undankbar und wären nicht in Deutschland „angekommen“. Dabei sind wir keine Zugezogenen, sondern wir wurden hier geboren.
Ich habe mir den Ort meiner Geburt nicht ausgesucht
Die Überheblichkeit einiger Westdeutscher kann ich nur schwer verstehen. Niemand von uns hat Einfluss darauf, an welchem Ort er geboren wird. Meine Eltern waren gerade erwachsen, als die Mauer fiel. Sie hatten noch eine gewisse Wahl, entschieden sich aber für ein Leben in der vertrauten Heimat. Meine Generation hatte keine Möglichkeiten. Wir waren junge Erwachsene, als die Mauer fiel. Unsere Kindheit und Jugend in der DDR hat uns geprägt.
Wir sind anders
Ja, wir sind anders. Aber ist das nicht ganz normal? Wir waren vierzig Jahre getrennt. Das ist ein halbes Leben. Für den einen ein bisschen mehr, für den anderen ein bisschen weniger. Wir sind mit anderen Werten aufgewachsen. Unser Schulsystem war so gut, dass Finnland es übernommen hat. Wir haben andere Menschen gegrüßt, ihnen die Tür aufgehalten, einen Sitzplatz angeboten und Erwachsenen gegenüber einen gewissen Respekt gehabt. All diese Dinge vermisse ich, im Leben mit den Westdeutschen, die mittlerweile fast 50 Prozent der Einwohner meiner Heimatstadt stellen.
Weil ich die BRD bis 1990 nicht besuchen durfte, weiß ich nicht, ob meiner Generation hinter der Grenze diese Werte ebenso vermittelt wurden. Entweder herrschte dort ein anderes Miteinander, oder die Zugezogenen haben die Höflichkeiten zu Hause gelassen, weil sie ebenso wie das Netz über uns denken, dass wir ohnehin „The Worst“ sind und man uns entsprechend behandeln kann.

Für die Freiheit sind wir 1989 auf die Straße gegangen. Dass wir unsere Identität abgeben und dass nichts übrig bleiben darf, von unserem Leben und unseren Erinnerungen, das wussten wir nicht. Wenn es damals eine KI gegeben und gewarnt hätte: Vielleicht hätten wir anders entschieden. Aber vermutlich wäre uns der Zugang zur KI verwehrt geblieben, denn wir haben in einer Diktatur gelebt. Wenn wir heute sagen, dass wir in unserem Leben schöne Momente hatten, verklären wir einen Unrechtsstaat. Sagt der Westdeutsche. Wer sonst?
Wie kommen wir zueinander?
Die Professorin und ihre Mitarbeiterin wünschen sich, dass KI-Modelle künftig negative Stereotype nicht mehr berücksichtigt, was sicher zu realisieren ist. Doch bringt uns das in der aktuellen Debatte wirklich weiter? An der Antwort von ChatGPT sehen wir, dass das Internet voll ist, mit Stereotypen über unseren Charakter, unsere politische Einstellung, unsere Bildung, Produktivität und unsere Meinung zu den Themen der Welt. Wir können die KI trainieren, aber die Meinung in den Köpfen einiger Menschen lässt sich nicht ausschalten.
Warum halten sich diese Vorurteile so hartnäckig? Ich denke, die Unzufriedenheit spielt eine große Rolle. Die Einheit hat Milliarden gekostet. Viele Städte im Osten sind hübsch saniert, während der Westen all die Jahre das Nachsehen hatte. Doch das liegt nicht in der Verantwortung der Ostdeutschen, sondern die Politik hat versagt. Aber ihr war wohl nicht bewusst, wie heruntergewirtschaftet die DDR war.
Neid ist im Kapitalismus ein großes Problem. Wir hatten irgendwo alle das Gleiche. Jetzt können wir weit nach oben blicken. Wer ganz unten ist, schimpft gern auf den Ballast, den sich Deutschland mit dem Osten an die Backe geheftet hat. Und der Ossi schimpft zurück, ich nehme mich da nicht aus.
Nicht die Politik, nicht eine Reihe von Ostbeauftragten, und auch nicht die vielen Jahrzehnte, die Filme und Serien, die Bücher und Dokumentationen und die Begegnungen untereinander haben es geschafft, dieses Land zu vereinen. Ich bin ehrlich: Meine Generation erlebt die Einheit in den Köpfen nicht mehr. Die Generation meiner Kinder auch nicht. Vielleicht wird es den Enkeln gelingen.
Mit den Zeitzeugen sterben die Erinnerungen
Wenn wir, die Zeitzeugen, nicht mehr da sind, sterben die Erinnerungen an die DDR. Sie werden nicht bewahrt, weil wir kaum zu Wort kommen. Sämtliche Filme und Dokumentationen befassen sich mit dem Unrechtsstaat. Das DDR-Museum hat eine neue Leiterin aus Westdeutschland bekommen. Sie gibt an, sich auf wissenschaftlicher Basis mit unserem Leben befasst zu haben. Sicher weiß sie mehr darüber, als wir selbst.
Unser Alltagsleben mit all seinen schönen Momenten, unsere Werte, unsere Erziehung, die Träume, die wir hatten, den Frust, die Ängste: All dies wurde bislang kaum thematisiert. Jeder Deutsche weiß mittlerweile, was die Stasi den Menschen angetan hat. Das wird bleiben, von der DDR. Aber unser ganz normales Leben hinter der verschlossenen Tür stirbt mit uns aus. Das Vergessen ist die Chance, für das Zusammenwachsen der einst getrennten Republik.
Wenn es Forschern gelingt, die KI zu trainieren, und wenn all die Kommentare und Diskussionen aus den ersten 50 Jahren nach der Wende im Nirvana des weiten Internets verschwinden, dann bekommt Sachsen-Anhalt vielleicht einen ähnlichen Status wie Bayern oder NRW. Das bedeutet, dass die Einheit in den Köpfen gescheitert ist. Diese Konsequenz können wir heute, im vierten Jahrzehnt nach der Wende, bereits verbuchen. Die KI hat die Realität auf den Tisch gelegt. Nun heißt es abwarten, bis die Enkelgeneration ihre Großeltern begraben hat. Hüben und drüben ist es der einzige Weg, die Vorurteile endlich hinter sich zu lassen. Auf beiden Seiten, im Übrigen, denn dieser Text ist auch nicht frei davon.

ISSN 3053-674X
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