Rente mit 70? – Warum nicht jeder so lange arbeiten kann
Wirtschaftsministerin Katherina Reiche fordert die Rente mit 70 Jahren. Professoren und Wirtschaftsweise schließen sich an. Wir müssen länger arbeiten, um das System vor dem Kollaps zu bewahren. Und wir sollten nicht so tun, als ob die meisten Menschen Dachdecker wären oder in der Pflege arbeiten. Das sagen Politiker, die überdurchschnittlich verdienen und nie einer körperlich schweren Arbeit nachgegangen sind. Sie können es sich leisten, über die 70 hinaus zu arbeiten oder mit 60 Jahren und den damit verbundenen Abschlägen aufzuhören. Es entscheidet die persönliche Lebensplanung. Doch wir sieht es in der Mitte der Gesellschaft aus? Mein Mann arbeitet Schicht, ich bin Autorin. Wir haben vier Kinder. In diesem Artikel erfährst du, warum ich über die 70 hinaus arbeiten kann, mein Mann aber nicht.

Rente mit 70: Ein Paar, zwei Lebensläufe, zwei Perspektiven
Zu unserer Silberhochzeit haben wir kirchlich geheiratet. Der Pfarrer war neu in unserer Stadt. Er wollte uns kennenlernen und bat uns um einen Abriss unserer Lebensläufe. Ich bin Germanistin, mein Mann ist Lebensmitteltechniker in einem Industriebetrieb. Sehr viel Empathie brachte der Pfarrer nicht mit, denn mit Blick auf unsere Tabelle fragte er: Sowas funktioniert? Damit meinte er meinen höheren Bildungsabschluss. Mein Mann hat nach der Mittleren Reife eine Lehre absolviert.
Ja, sowas funktioniert, unsere Silberhochzeit ist mittlerweile mehr als ein Jahrzehnt her. Genauer gesagt: Es funktioniert in einer Ehe. In Bezug auf die Rente mit 70 funktioniert es nicht, denn wir beide können nicht bis zu unserem 70. Geburtstag arbeiten. Ich kann es und ich werde es müssen, denn als Mutter von vier Kindern war ich viele Jahre nicht berufstätig. Deshalb bekomme keine lebenswerte Rente, sondern einen kleinen netten Almosen. Mein Mann ist im Vierschichtsystem tätig. Trotz technischer Fortschritte arbeitet er immer noch mit körperlichem Einsatz. Kollegen, die älter sind als er, haben mitunter arge Probleme. Viele von ihnen gehen früher in Rente und nehmen Abschläge in Kauf. Und das ist wohl der Plan: Die Rente mit 70 ist keine längere Lebensarbeitszeit zum Wohle der Rentenkasse, sondern eine Rentenkürzung.
Eine Differenzierung nach Berufsgruppen wäre notwendig
Wir gehören zu dem Teil der Bevölkerung, den man wohl den Mittelstand nennt. Mit unseren ganz unterschiedlichen Berufen verkörpern wir eine Lebensrealität, die Wirtschaftsprofessoren und Politikern offensichtlich ganz fremd ist. Es wären Differenzierungen notwendig: Menschen, die keine körperliche anspruchsvolle Arbeit leisten oder im Schichtsystem tätig sind, sollten für diese Lebensleistung mit einem früheren Renteneintritt belohnt werden.
Ich höre den empörten Aufschrei all jener, die im Büro sitzen und sich benachteiligt fühlen. Aber vermutlich wäre es aufgrund des Gleichstellungsgesetzes und der Grundgesetz-Klausel, in der alle Menschen gleich sind, gar nicht möglich, den Dachdecker mit 60 Jahren in Rente zu schicken und den Sachbearbeiter zehn Jahre länger arbeiten zu lassen.
Ich wäre mit einer längeren Lebensarbeitszeit einverstanden
Persönlich wäre ich mit einer Differenzierung einverstanden. Ich könnte bis 70 arbeiten, weil ich am Computer sitze und Denkarbeit leiste. Und ich hoffe sogar, dass mich das Schreiben noch lange begleiten wird. Abgesehen davon, dass ich meine winzige Rente aufbessern muss und nicht weiß, wie lange mein Mann leben und mich versorgen darf, macht mir meine Arbeit Spaß. Hinzu kommt, dass ich zwar auf 35 Arbeitsjahre komme, aber diese überwiegend durch das Studium, die Kindererziehung und kleinere Jobs gefüllt wurden. Als Freiberuflerin habe ich nicht in die Rentenkasse eingezahlt. Es war mir einfach zu teuer. Und ich glaube, es war eine gute und richtige Entscheidung.
Hohe Belastung allein durch die Schichtarbeit
Als Ehefrau eines Industriearbeiters sehe ich die Arbeitsbelastung meines Mannes und seiner Kollegen täglich. Allein das Schichtsystem zerrt an der Gesundheit. Zudem sind die Strukturen in dem Unternehmen so veraltet, dass Gleitzeit oder Vertrauensarbeitszeit bestenfalls irgendwelche Teamleiter für sich in Anspruch nehmen. Für den Arbeiter gibt es eine digitale Stechuhr. Man könnte es im rollenden Schichtsystem selbstbestimmter lösen, zumindestens in diesem Unternehmen. Aber das möchte man nicht.
Nach der Schule habe ich eine Ausbildung als Krankenschwester absolviert, aber nie in diesem Beruf gearbeitet. Wir bekamen früh Kinder, mein Mann ging in die Schichtarbeit, ein Leben mit der Klinke in der Hand und Zetteln am Kühlschrank wollten wir nicht führen. Aber durch diese Ausbildung kenne ich die Arbeitsbelastung in der Pflege. Da ein wenig Wehmut an diesem unerfüllten Berufswunsch hängen geblieben ist, beschäftigte ich mich oft mit den Arbeitsbedingungen im Krankenhaus. Ich glaube, ich hätte das nicht knapp 40 Jahre durchgehalten. Und ich gehe davon aus, dass es auch dort nur wenigen möglich sein wird, bis zum vollendeten 70. Lebensjahr zu arbeiten.
Früher in Rente gehen? – Na klar! Mit Abschlägen
Die Struktur des Rentensystems habe ich in diesem Artikel erklärt. Deshalb schreibe ich hier nur einen kurzen Überblick: Die „Rente mit 63“ ist schon fast zu einem geflügelten Wort geworden. Und ja, es gibt sie noch. Aber mit Abschlägen.
Unter vollem Bezug konnte mit 63 Jahren nur in Rente gehen, wer bis 1952 geboren wurde. Seitdem wird das Rentenalter schrittweise angehoben. Für die Jahrgänge zwischen 1953 und 1963 liegt es zwischen 63 und 65 Jahren. Ab 1964 sind 65 Jahre festgeschrieben. Somit gilt schon heute für alle, die in Rente gehen, ein Mindestalter von 64 Jahren. Ab dem Renteneintritt 2029 werden es 65 Jahre sein. Voraussetzung für die Inanspruchnahme dieser „Rente für besonders langjährig Versicherte“ sind 45 beitragspflichtige Arbeitsjahre.
Rentenkürzung anstelle von längerer Lebensarbeitszeit
Es steht nach wie vor jedem Versicherten frei, mit 63 Jahren aus dem Arbeitsleben auszuscheiden. Wenn du diese Entscheidung treffen möchtest, verzichtest du auf bis zu 14,4 Prozent deiner Rentenzahlungen: Für jeden Monat, den du früher in Rente gehst, werden dir dauerhaft 0,3 Prozent von deinem Anspruch abgezogen. Diese Regelung wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit bestehen bleiben, wenn die Rente mit 70 Jahren eingeführt wird. Wer nicht so lange arbeiten kann, geht früher und nimmt hohe Abschläge in Kauf. Und das, obwohl er sein ganzes Arbeitsleben eingezahlt hat.
Meinen Mann, viele seiner Kollegen und tausende Beschäftigte in Branchen mit Schichtarbeit, körperlicher Arbeit oder generell hoher Arbeitsbelastung wird es treffen, wenn das Renteneintrittsalter für unsere Generation noch einmal erhöht wird. Bestimmt habe nicht nur ich den Eindruck, dass es nicht darum geht, den Bürger länger im Arbeitsleben zu halten. Es geht darum, Geld zu sparen. Die Politiker wissen, dass die Beschäftigten nicht so lange arbeiten können. Viele werden ihr Arbeitsleben früher beenden und die Abschläge in Kauf nehmen. Das entlastet die Rentenkasse um Millionen Euro, obwohl die Arbeitnehmer über Jahrzehnte eingezahlt haben.
Gibt es Bedarf an älteren Arbeitnehmern?
Sicherlich wird es Menschen geben, die gern länger arbeiten möchten. Es gibt sie schon heute: Rentner, die sich in kleinen, häufig schlecht bezahlten Jobs etwas hinzuverdienen. Weil sie Spaß daran haben, weil sie sich ein Leben ohne Arbeit nicht vorstellen können, oder auch, weil sie es müssen. Denn das Rentenniveau ist im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarstaaten sehr niedrig.
Wie sieht es mit dem Bedarf an älteren Arbeitnehmern aus? Schauen wir noch einmal in den Betrieb meines Mannes. Ein Kollege hätte gern länger gearbeitet. Er fühlte sich fit und gesund. In seinem Arbeitsleben hatte er einige Pausen, die er mit einer längeren Arbeitszeit ausgleichen wollte. Doch es ging nicht. Wer das Rentenalter erreicht hat, muss gehen. So wird es in diesem Unternehmen ausnahmslos gehandhabt. Dies gilt allerdings für die abschlagsfreie Rente: Zur Frühverrentung mit Abschlägen wird niemand gezwungen. Würde mein Mann also länger arbeiten wollen, ist dies gar nicht möglich.
Die Reaktionen der Arbeitgeber auf Bewerber, die ihren 50. Geburtstag hinter sich gelassen haben, sind gemischt. Auf der einen Seite werden Fachkräfte gesucht: Ältere Arbeitnehmer bringen viel Erfahrung und Wissen mit und sie sind lernfähig. Auf der anderen Seite möchten Unternehmen ein „junges dynamisches Team“ zusammenstellen und schauen sich Bewerbungen von Arbeitnehmern ab 40 Jahren schon gar nicht mehr an.
Die Aussagen der Katherina Reiche
Katherina Reiche ist als Wirtschaftsministerin mit einem ganz anderen Aufgabengebiet vertraut. Eigentlich. Dennoch ließ sie es sich nicht nehmen, in dem ihr fremden Ressort zu wildern und damit die zuständige Ministerin Bärbel Bas gegen sich aufzubringen.
Der demografische Wandel und die weiter steigende Lebenserwartung machen es unumgänglich: Die Lebensarbeitszeit muss steigen. Wir müssen mehr und länger arbeiten“, sagte Reiche. Notfalls müsse man das Renteneintrittsalter auf 70 Jahre anheben.“
Wirtschaftsministerin Katherina Reiche gegenüber der FAZ
Damit schließt sie sich an die Forderung von Kanzler Friedrich Merz an. Dieser verlangte kein höheres Rentenalter, aber er sagte, dass die Menschen wieder mehr arbeiten müssten. Nicht nur beim Koalitionspartner, sondern auch in den eigenen Reihen sorgen die Aussagen für Kritik. Bei der Bevölkerung sowieso. Die Politiker haben den Bezug zum Leben der Bürger in Deutschland vollständig verloren, ist oft zu lesen. Auf Frau Reiche könnte das zutreffen.
Ein Blick in die Biografie der Wirtschaftsministerin
Schauen wir uns die Vita von Frau Reiche kurz an: Sie studierte Chemie, unter anderem an der Uni Potsdam, und war dort wissenschaftliche Mitarbeiterin, bevor sie in die Brandenburger Landespolitik ging. Dort nahm sie ihren Hut, um in der freien Wirtschaft zu arbeiten. Sie hat drei Kinder von ihrem Ehemann, lebt von ihm getrennt und mit Karl Theodor zu Guttenberg liiert.
Es klingt nach einem privilegierten Leben, und das ist es wohl auch: Mir lief Frau Reiche, damals gänzlich unbekannt, ein paarmal an der Uni über den Weg. Sie wirkte bereits als einfache wissenschaftliche Mitarbeiterin sehr abgehoben. Später begegnete ich ihr zufällig im Potsdamer Stern-Center. Sie stand mit ihren Kindern vor mir auf der Rolltreppe, eingehüllt in einen auffällig roten Mantel, auf ebenso roten High Heel, ihre Parfumwolke war eher unangenehm als dezent aufgetragen.
Frühes Bewusstsein für das privilegierte Leben
Das sind meine ganz persönlichen Eindrücke. Doch wenn ich nun ihre Aussagen lese, bestätigt sich das oberflächliche Bild aus den zufälligen Begegnungen: Frau Reiche ist privilegiert und war sich dessen schon in jungen Jahren bewusst. Aus dem Volksmund passt der Begriff „abgehoben“ sehr gut. Fakt ist wohl, dass sie keine körperliche Arbeit kennt und kein Schichtsystem. Politiker arbeiten bis zu 16 Stunden am Tag, das ist bekannt. Aber es ist ein anderes Arbeiten. Eines, das sich auf den Kopf und nicht auf den Körper konzentriert.
Sven Petke, der Vater ihrer Kinder, hat eine Berufsausbildung als Instandhaltungsmechaniker durchlaufen, bevor er sich in einem Studium weiterbildete und ebenfalls in die Politik ging. Er stammt wie Reiche aus der DDR: Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat er in seiner Ausbildung den Alltag in der Industrie kennengelernt. Aber haben beide jemals darüber gesprochen?
Die Biografie von Karl-Theodor zu Guttenberg ist bekannt: Auch er kann wenig Erfahrung zum Leben in der Mitte der Gesellschaft beitragen. Somit bekommt Frau Reiche keinen Input aus dem Privatleben. Dass sie ihn in der Politik eher auch nicht findet, müssen wir nicht diskutieren.
Welche Schulnote hatte die Wirtschaftsministerin im Fach Mathematik?
Katherina Reiche erweitert ihre Aussage zur längeren Lebensarbeitszeit mit einer interessanten Rechnung, die ich einmal auf das Arbeitsleben meines Mannes und damit auf viele Menschen in unserem Land anwenden möchte. Er arbeitet in einem Unternehmen mit mehreren tausend Beschäftigten in Deutschland, die eine ähnliche Biografie haben, weil in dem Betrieb sehr viele langjährige Mitarbeiter tätig sind.
Es kann auf Dauer nicht gutgehen, dass wir nur zwei Drittel unseres Erwachsenenlebens arbeiten und ein Drittel in Rente verbringen.
Katherina Reiche. Wirtschaftsministerin
Wenn die Regierung keine Änderungen am Renteneintrittsalter vornimmt, kann mein Mann mit 65 Jahren abschlagsfrei in den Ruhestand gehen. Dann hat er, wenn wir die Lehrzeit mitrechnen, 49 Jahre gearbeitet. Frau Reiche spricht von drei Dritteln Lebenszeit, die er dann im Arbeitsleben verbracht hat. Also teilen wir die 49 Jahre durch Zwei und erhalten den Wert 24,5.
Wenn mein Mann ein Drittel seiner Lebenszeit in Rente verbringen wird, erreicht er ein stattliches Alter von 89,5 Jahren. Das ist machbar, seine Eltern haben die Achtzig überschritten und erfreuen sich bester Gesundheit. Wir wünschen uns als Paar von Herzen, dass wir eine lange und schöne gemeinsame Rentenzeit haben.
Doch die Statistik spricht eine andere Sprache: Männer in unserer Generation haben eine Lebenserwartung von 78,5 Jahren. Wer Zeitung liest und die Trauerseiten überfliegt, der weiß, dass es eher wenige Menschen sind, die ihren 90. Geburtstag erleben dürfen. Somit ist es für mich völlig unverständlich, wie Frau Reiche zu ihrer Aussage kommt. In der Statistik darf mein Mann eine Rentenbezugszeit von 13,5 Jahren erwarten. Würde ihn die Erhöhung der Lebensarbeitszeit auf 70 Jahre treffen, wären es nur 8,5 Jahre, die dann einem Arbeitsleben von 54 Jahren gegenüberstünden. Er war ein einziges Mal für wenige Wochen arbeitslos. Diese Zeit fließt in die Rentenbezugsdauer ein, weil er das Arbeitslosengeld I bezog.
Nicht alle Menschen sind Dachdecker und Pflegekraft
Diese Aussage war im Zusammenhang mit der Forderung der Katherina Reiche nach der Rente mit 70 immer wieder zu lesen: Die meisten Menschen arbeiten nicht als Dachdecker, Pflegekraft oder in der Industrie. Nein, es mögen nicht die meisten sein. Aber es sind verdammt viele, die jetzt schon mit Sorge auf die 67 Jahre blicken, die sie im Arbeitsleben erreichen müssen, um abschlagsfrei in Rente gehen zu können.
Für Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas, in deren Ressort die Rente eigentlich fällt, ist die Not des kleinen Mannes nicht ganz fremd. Sie kommentierte die Aussagen von Frau Reiche so:
Viele erreichen aus gesundheitlichen Gründen bereits das jetzige Renteneintrittsalter nicht. Für diese Menschen wäre das eine Rentenkürzung. Wir müssen also erstmal dafür sorgen, dass die Leute länger gesund arbeiten können.
Wer 45 Jahre geackert hat, für den muss auch mal Schluss sein. Wer gleichzeitig über eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit und die Abschaffung der Rente für langjährig Versicherte spricht, hat von der Lebensrealität vieler Menschen keine Ahnung und macht ihnen Angst.
Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas zu den Aussagen von Wirtschaftsministerin Reiche
In der gesamten Diskussion scheint Frau Bas die einzige Politikerin mit Regierungsbeteiligung zu sein, der das Leben des „kleinen Mannes“ nicht fremd zu sein scheint. Der Blick in ihre Biografie erklärt ihre Haltung: Sie stammt aus bürgerlichen Verhältnissen, hat fünf Geschwister und lernte nach dem Schulabschluss einen klassischen Beruf. Sie spielte Fußball und fährt Harley Davidson. Vermutlich würde sie nie in einem wehenden roten Mantel und auf High Heels durch ein Einkaufszentrum stöckeln. Das ist menschlich doch irgendwie sympathisch.
Rente mit 63 abschaffen
In ihrer Antwort auf die Einmischung der Katherina Reiche bekennt sich Frau Bas zur Rente für besonders langjährig Versicherte nach 45 Arbeitsjahren. Frau Reiche möchte auch diese abschaffen. Keine Frühverrentung mehr, alle arbeiten bis 70 Jahre. Unabhängig von der beruflichen Belastung, denn Ausnahmen erwähnte die Wirtschaftsministerin nicht. Das eint sie mit Professoren und Wirtschaftsweisen, die in Bezug auf die Arbeitsbelastung eine ähnliche Biografie haben wie Frau Reiche und die „Rente mit 70“ einheitlich befürworten.
Es wäre genug Geld da gewesen
Fakt ist: Unser Staat könnte sich die abschlagsfreie Rente mit 63 Jahren, die Mütterrente und ein höheres Rentenniveau leisten, wenn er sich nicht über Jahrzehnte an dem Topf bedient hätte, in den alle Arbeitnehmer eingezahlt haben. Und wenn die Politik rechtzeitig gegen den demographischen Wandel angesteuert hätte.
Versicherungsfremde Leistungen
Bei den „versicherungsfremden Leistungen“ handelt es sich um Kosten für Bezieher von Geldern, die nicht aktiv eingezahlt haben. Dazu zählen unter anderem Kriegsfolgelasten, Ausbildungszeiten und Kindererziehungszeiten, aber auch um Renten für Aussiedler und Opfer von NS-Unrecht. All diese Zahlungen müssten aus dem Bundeshaushalt finanziert werden. Doch die Beitragszahler haben die Finanzierung übernommen.
Der Generationenvertrag funktioniert nicht mehr
Zur Zeit Konrad Adenauers haben Familien viele Kinder bekommen, während die Senioren aufgrund der schlechteren medizinischen Versorgung und der Spätfolgen zweiter Weltkriege nicht so alt geworden sind. Heute ist es umgekehrt: Senioren werden alt, junge Menschen bekommen keine oder nur wenige Kinder. Ein umlagenbasiertes System, in dem die Arbeitnehmer nicht für sich selbst, sondern für die Rentner zahlen, kann so nicht funktionieren. Das wusste schon Ludwig Erhard als Wirtschaftsminister in der Regierung Adenauer. Seit den 1970er-Jahren wusste die Politik, dass das System umkippen wird. Passiert ist nichts.
Die Rente ist nicht mehr sicher
Dass die Rente sicher ist, wie Arbeitsminister Norbert Blüm es in den 1980er-Jahren versprach, ist nicht mehr richtig. In den nächsten Jahren gehen 16 Millionen Menschen aus der Generation der Boomer in Rente. Es gibt keinen Nachwuchs, der die Kosten stemmen könnte. Doch ist der einzige Ausweg aus dieser Schieflage, dass alle Menschen noch länger arbeiten müssen?
Es gibt andere Wege, das Rentensystem zu stabilisieren, doch auch sie treffen vorrangig die Mitte Deutschlands.
- Verringerung des ohnehin schon niedrigen Rentenniveaus von 48 Prozent
- Erhöhung der Rentenbeiträge trotz der ohnehin schon hohen Lohnnebenkosten
- Abschaffung von Sonderprivilegien für Beamte, Richter, Polizei und weitere Berufsgruppen
Bärbel Bas forderte, dass Beamte künftig in die Rentenkassen einzahlen sollen, doch das ist der Politik nicht einmal eine Diskussion wert. Und so sehen wir unsicheren Zeiten entgegen. Auch Arbeitnehmer wie mein Mann, die kontinuierlich eingezahlt haben, dürfen sich auf einen verdienten Ruhestand nicht mehr verlassen. Ist das noch ein Land, in dem wir gut und gerne leben?
Was planen wir, für unsere Finanzen im Alter?
Wir haben noch einige Jahre Zeit, bis wir das Rentenalter erreichen. In diesen Jahren kann die Politik viele Entscheidungen treffen. Das verunsichert uns. Mein Mann ist durch seine Berufstätigkeit, einen soliden Verdienst und mehrere Betriebsrenten aus unterschiedlichen Arbeitsverhältnissen gut abgesichert. Ich habe Kinder erzogen, lange studiert und als Freiberuflerin keine freiwilligen Einzahlungen geleistet. Somit ist meine Rente sehr gering. Gemeinsam wird es uns aber gut gehen.
Minijob und freiberufliche Tätigkeit
Mein Mann möchte sich einen Minijob suchen und an einigen Vormittagen in der Woche einer leichten Arbeit nachgehen. Ich bleibe Autorin, auch über das Rentenalter hinaus. Ein Leben ganz ohne Arbeit kann ich mir finanziell nicht leisten. Mein Mann kann sich nicht vorstellen kann, nichts zu tun.
Diese Pläne gehen nur auf, wenn wir gesund bleiben. Sollte dies nicht der Fall sein, werden wir trotzdem gemeinsam unseren Lebensunterhalt bestreiten können. Wenn das Rentenniveau nicht sinkt. Wenn das Renteneintrittsalter nicht erhöht wird und mein Mann mit Abschlägen in Rente gehen muss. Und wenn er 89,5 Jahre alt werden darf, so, wie es Frau Reiche für ihn prognostiziert hat.
Wenn nur die Witwenrente bleibt
Sollte mein Mann vor mir gehen müssen, bin ich einmal mehr auf zusätzliche Einnahmen angewiesen. Mit 60 Prozent Witwenrente von 48 Prozent dessen, was mein Mann heute verdient, werde ich nicht gut leben können. Doch ich würde auch heute wieder Kinder bekommen und mich selbst um sie kümmern. Es war eine wunderschöne Zeit, in unserem Leben, die mit keinem Geld der Welt zu bezahlen ist.
Und das Fazit?
Deutschland war einmal eines der reichsten Länder der Welt. Wir hatten eine starke Wirtschaft und eine hohe Lebensqualität bei günstigen Lebenshaltungskosten. Der Ruhestand nach dem Arbeitsleben sollte wohlverdient sein. Nun sieht es so aus, als würden wir nicht einmal das bekommen, war wir dem jährlichen Rentenbescheid entnehmen können. Zumal wir den Betrag fast voll versteuern und Beiträge an die Kranken- und Pflegeversicherung zahlen müssen.
Für ein sorgloses Rentnerleben reichen die Beiträge an die Rentenkasse nicht aus. Hätten wir die Möglichkeit gehabt, das Geld anzulegen, wären wir reich. Aber Arbeitnehmer wie mein Mann sind an den Staat gebunden. Sie sehen das Geld gar nicht, es wird vom Arbeitgeber abgeführt. Wir hätten uns gewünscht, dass die Politik achtsamer damit umgeht. Nun stehen wir gemeinsam mit Millionen anderen Menschen vor den Scherben eines Systems, das die Politik an die Wand gefahren hat. Wer badet das jetzt aus? Die Politik? Nein!
Wer ist schuld an der Rente mit 70?
Die Rente mit 70 wird kommen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit schon für uns. Wird jemand dafür zur Rechenschaft gezogen? Ach i wo. Die Boomer sind schuld, sie haben zu wenig Kinder bekommen. Die Beschäftigten, die viel zu früh den Arbeitmarkt verlassen. Die jungen Menschen, weil sie, anders als ihre Vorfahren, nicht mit 14 zu arbeiten beginnen. Die Studenten studieren zu lange. Es wird zu viel Teilzeit gearbeitet. Die Wochenarbeitszeit ist zu kurz. Die meisten haben irgendetwas zu der Misere beigetragen. Sagt die Politik, um sich die eigenen gravierenden Fehler nicht eingestehen zu müssen.

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