Wessi gegen Ossi – Diskussion um das alte Berlin

Wessi gegen Ossi – Diskussion um das alte Berlin

Wenn der Wessi gegen den Ossi wettert, weil das Leben in West-Berlin um ein Vielfaches schöner war als in der heute wiedervereinigten Stadt, kann die Gürtellinie schnell unterschritten werden. Die BZ fragte auf Facebook, was die Leser am alten Berlin vermissen. Verschiedenes wurde genannt, doch beim Scrollen dauerte es nicht lange, bis die Mauer Gegenstand des Vermissens war. Und prompt musste der Ossi als Wurzel des Übels hinhalten. Warum führen Menschen mehr als drei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer noch solche Diskussionen? Und haben wir eine Chance auf ein wirkliches Zusammenwachsen?

Ein Trabbi durchbricht die Berliner Mauer. East Side Gallery. Berlin.
Das Berliner Mauer ist als East Side Gallery in einem Teilstück erhalten. Es gibt ehemalige West-Berliner, die sie sich in voller Länge zurückwünschen

Wenn der Jammer-Ossi mal zufrieden ist

Besser-Wessi und Jammer-Ossi sind Begriffe, die sich mehr als drei Jahrzehnte nach der Wende hartnäckig halten. Der Wessi kennt das System ganz genau. Er muss dem Ossi sagen, wo es lang geht. Der Ossi jammert nur. Er verklärt sein schönes Leben in der DDR und wünscht sich sein Heimatland manchmal sogar zurück. Unrechtsstaat, Überwachung durch die Stasi, eingesperrt hinter Mauern? Alles vergessen. So besagt es das Klischee.

Die Realität kann aber auch umgekehrt sein: Der Besser-Wessi jammert, weil er sein altes Leben in West-Berlin vermisst. Er wünscht sich die Mauer zurück und beklagt sich über die Ossis, für die er einen Teil seines hart erarbeiteten Geldes opfern musste. So gelesen auf Facebook, in einer Diskussion auf der Seite der BZ. Es ist eine Diskussion, die in den 2020er-Jahren immer noch geführt wird.

Was vermissen Sie am alten Berlin?

Die BZ fragte auf ihrer Facebookseite, was die Leser oder Follower am alten Berlin vermissen. Es ist glasklar, dass diese Frage die typischen Wortgefechte auslöst. Vermutlich ist das auch beabsichtigt. Der Osten hat gewählt, und er wählt anders als der Berliner. Überhaupt ist die Ost-West-Debatte wieder sehr präsent, in den Medien. Ob es an den Wahlen liegt, an der allgemeinen Unzufriedenheit oder an dem einen oder anderen Buch, das dieses Thema noch befeuert: Es ist von allem ein wenig.

Der Berliner vermisst vieles, in seiner Stadt, die sich in den letzten 30 Jahren so sehr verändert hat. Dies gilt im Übrigen für Ost und West gleichermaßen. Berlin bekam seinen Status als Hauptstadt zurück. Nachdem die Mauer beseitigt war, wuchs die Stadt zusammen. Für die einen ist sie ein Sehnsuchtsort, der jedem die Möglichkeit bietet, sich frei zu entfalten. Für andere hat sie sich so verändert, dass sie kaum wiederzuerkennen ist.

Sicherheit, Bäckereien und Freundlichkeit

Das Vermissen reduziert sich nicht nur auf den Mauerfall. Die Menschen wünschen sich, nachts sicher durch die Straßen gehen zu können und sich in urigen Kneipen zu treffen, die es seit Jahren nicht mehr gibt oder die sich stark verändert haben. Es umfasst die Freundlichkeit und Persönlichkeit in einer Stadt, die als Insel mitten in der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone lag. Es gab kleine Läden, viele Bäckereien, Cafés und das Gefühl, eine Einheit zu sein.

Heute ist Berlin eine pulsierende Großstadt. Vieles, was Westberlin einst ausmachte, ist verschwunden oder nicht mehr wiederzuerkennen. Der Ku’Damm als ehemalige City West. Die Flughäfen Tegel und Tempelhof. Das beschauliche Wannsee, das von der Grenze umgeben war und faktisch ein kleines Ende der Welt bedeutete. Das Café Kranzler und die mondäne Schlossstraße in Steglitz: Es gibt sie noch. Aber anders.

Das einschneidende Ereignis

Im Grunde ist es keine Überraschung, dass bereits der dritte Post in eine bestimmte Richtung weist. Nicht ein bestimmter Ort oder ein individuelles Gefühl ist Gegenstand des Vermissens. Es ist die Mauer, die einigen Menschen fehlt.

Ich trau mich nicht es zu sagen … aber unser Berlin war mal exceptionell…schillernd…aufregend…wir waren stolz auf den Kudamm, den langen Lulatsch etc. Jeder lebte gerne in dieser Stadt … dann kam ein einschneidendes Ereignis und von da an … gings bergab. Ich hätte zu gerne mein altes Berlin wieder.

Gabriela auf Facebook

Grundsätzlich ist es verständlich, dass Westberliner ihr altes Leben in der Enklave vermissen. Wir im Osten hätten auch gern das eine oder andere zurück. Doch die Diskussion unter dem Post entwickelte sich in eine Richtung, die typisch ist, für viele Ost-West-Diskussionen: Der Ossi hat zu verantworten, dass das Leben teuerer und weniger angenehm geworden ist.

Wir sind nach Österreich oder die Schweiz geflogen

Durch diese Vereinigung gab es in den alten Bundesländern nur Einbußen. Hauptstadtzulage wurde sofort gestrichen, wir mussten einem Soli bezahlen usw. Wir müssen leider damit leben, was soll’s, aber vielleicht auch mal darüber nachdenken, was die Berliner auf sich nehmen mussten, nach dem die Grenzen geöffnet wurden.

Ida auf Facebook

Ida macht ihrem Frust über die Wiedervereinigung in einem weiteren Kommentar Luft:

Ossiland hat uns nie interessiert, wenn wir Berge sehen wollten sind wir nach Österreich oder Schweiz geflogen, nichts mit filzen. Eure Bundesländern waren uns mehr als egal. Ihr könnt Autofahren, dass ich nicht lache, gerade die aus Potsdam oder die OHV’er null Ahnung davon. Sagt auch schon das Nummernschild, ohne Hirn und Verstand.

Ida auf Facebook

Derartige Beschimpfungen sind auf der Social-Media-Plattform häufig zu lesen, und sie sind sicher nicht das Maß aller Dinge. So schreibt ein anderer User, dass er das urige Flair Westberlins durchaus vermisst, nicht aber die Mauer, die Grenzen und die Waffen. Dennoch ist Ida kein Einzelfall. Der Ostdeutsche wird gern für den gesunkenen Lebensstandard verantwortlich gemacht.

Schauen wir uns die Fakten an, entsteht ein anderes Bild. So ist Ida mit Sicherheit nicht von Westberlin nach Österreich oder in die Schweiz geflogen, wenn sie die Berge sehen wollte. Wie alle anderen Westberliner konnte sie nur Flüge nach London, Paris oder in eine Stadt der damaligen BRD buchen. Der Luftraum wurde von den Alliierten kontrolliert. Direktflüge nach Österreich oder in die Schweiz gab es nicht.

Ob Westberliner tatsächlich einmal umgestiegen sind, um nach Österreich oder in die Schweiz zu kommen, kann ich nicht beurteilen. Fakt ist, dass an der Grenze gefilzt wurde und dass das Leben im alten Westberlin nicht immer so frei nach Schnauze gelebt wurde, wie es einige heute gern darstellen.

Das Leben im alten Westberlin

Ich kann nur versuchen, mir das Leben in West-Berlin vorzustellen: Ein Leben auf einer kleinen Insel mitten in der DDR, die von Reinickendorf im Norden bis Lichtenrade im Süden reichte. Oder von Wannsee bis zum Brandenburger Tor. Es gab einen Wald, viele Parks, zwei Seen.

Wer mehr wollte, musste zunächst an den DDR-Grenzposten vorbei. Gern wurden die West-Berliner aus dem Auto geholt und gefilzt. Mit ehemaligen West-Berlinern aus dem Freundes- und Bekanntenkreis sprechen wir oft über das Leben dort.

Eine Familie mit drei Kindern wollte nach Westdeutschland fahren. Es war sehr früh am Morgen. Die Kinder wurden zu Hause geweckt und waren auf dem Rücksitz gerade wieder eingeschlafen, als die Eltern die Grenze erreichten. Grenzposten wollten eine Kontrolle durchführten. Die gesamte Familie musste aus dem Auto aussteigen. Die Kinder weinten, doch das interessierte natürlich nicht. Der Kofferraum musste geleert werden. Im Auto wurde jeder Winkel durchsucht. Wonach die Grenzposten suchten, blieb unklar. Die Familie konnte nach einer guten halben Stunde die Weiterfahrt antreten. Es war wohl nichts weiter als eine sinnlose Machtdemonstration.

Nach dem Passieren der Grenze fuhren die West-Berliner eine Strecke von mehr als 200 Kilometern, bis sie die BRD erreichten: Auf der heutigen A2 nach Hannover oder auf der A24 nach Hamburg. Wer auf der A9 Richtung Hof fuhr, musste mehr als 300 Kilometer zurücklegen. Auch darüber haben wir im Freundeskreis gesprochen.

Für uns war es normal, die Transitautobahnen zu nutzen, um in die BRD zu kommen. Dass wir auf einer Insel lebten, haben wir nicht so empfunden. Es war ein schönes Leben, in West-Berlin. Wir kannten in unserem Viertel alle Straßennamen auswendig. Das Zentrum mit dem Ku’damm hatte ein besonderes Flair. Erholung fanden wir im Grunewald und am Wannsee.

So lautet eine neutrale Meinung über das Leben in der Enklave. Die West-Berliner wurden für ihre Insellage auf verschiedene Weise entschädigt: Junge Männer waren vom Wehrdienst befreit und es gab eine Berlin-Zulage. Diese erhöhte das Einkommen und auch die Renten der Westberliner. Nach der Wende wurde die Zulage gestrichen, denn sie wurde durch die neuen Möglichkeiten der Versorgung überflüssig. Junge Männer mussten zum Wehrdienst, Berlin wurde voll, das Flair änderte sich. Doch hat daran der Ossi Schuld, oder gab es damals eine Regierung, die von Westdeutschen gewählt wurde?

Die Wahlen im Jahre 1990

Im März 1990 gab es noch zwei deutsche Staaten: Die DDR wählte ihre erste freie Regierung unter Hans Modrow, die Wähler in der BRD bestätigten Helmut Kohl als Bundeskanzler, er blieb weitere vier Jahre im Amt. Dies gab ihm die Möglichkeit, seine Vision vom vereinten Europa, die er einige Jahre zuvor gemeinsam mit François Mitterand gesponnen hatte, Schritt für Schritt zu verwirklichen. Kohl war überzeugter Europäer und machte daraus nie einen Hehl. Die Wähler wussten das.

Sein Gegenkandidat im Rennen um die Kanzlerschaft war Oskar Lafontaine. Damals war er einer der führenden Politiker der SPD. Und er war ein bekennender Gegner der deutschen Einheit. Hätten die Wähler in der BRD ihn zum Kanzler erhoben, hätte die Wiedervereinigung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit andere Wege genommen.

Nun mag es sein, dass Ina, Gabriela und andere Kommentatoren, die sich in den sozialen Netzwerken tummeln, ihre Stimme an Oskar Lafontaine gegeben haben. Es kann auch sein, dass sie gar nicht wählen gegangen sind oder dass sie noch nicht wählen konnten. Weil sie noch nicht geboren waren oder das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten.

Es ging um Freiheit

Der Ossi in erster Linie auf die Straße gegangen, um zu reisen und um seine Meinung frei äußern zu können. Der Konsum spielte sicher eine Rolle, die D-Mark sollte nach den Wünschen vieler schnell in den Portemonnaies landen. Das tat sie auch, knapp acht Monate nach der Nacht, in der die Grenzen fielen. Doch sie war nicht das Entscheidende. Den meisten Menschen, die in der ehemaligen DDR auf die Straße gegangen sind, ging es um die Freiheit.

Das Geld spielt in den Köpfen der Westdeutschen eine große Rolle. Es braucht ein gutes Einkommen, um in Deutschland sorgenfrei leben zu können. Wir im Osten hatten zum Geld ein ganz anderes Verhältnis. Die Möglichkeiten, die auf uns einprasselten, konnten wir im Herbst 1989 gar nicht ermessen. Reisen bedeutet für uns nicht, auf die Seychellen oder nach Los Angeles fliegen zu können. Mein Mann und ich wollten Hamburg kennenlernen. Und die Nordsee. Vielleicht einmal nach Paris oder London reisen. Die große weite Welt war für uns nicht greifbar, wir kannten sie nur aus dem Schulatlas.

Der Ossi ist kein Schuldiger

Die Kommentatorin Ida spricht dem Ostdeutschen diese doch eher bescheidenen Wünsche ab. „Reisen … das ich nicht lache“, liest der interessierte User. Später bricht sie die Diskussion mit den Worten „ich wünsche ein schönes Leben“ ab.

Dass die Situation in der Wendezeit maßgeblich von der westdeutschen Politik beeinflusst wurde, ist heute offenbar vergessen. Dem Ossi wäre es egal gewesen, ob der Westberliner weiterhin die Berlinzulage erhalten hätte. Er wäre dort auch nicht in Scharen eingewandert, um sie zu erhalten. Viele, die im Sommer 1989 geflüchtet sind, kamen wieder. Denn das Märchen von den gebratenen Tauben um goldenen Westen blieb ein Solches.

Ich frage mich oft, wo die Arroganz, die Abneigung, der Unmut, der Hass seine Wurzeln hat. Die meisten Westdeutschen, die heute noch leben, sind dort geboren. Ihre Eltern haben den Lebensmittelpunkt bestimmt. Meine Eltern hätten fliehen können: Als die Grenzen geschlossen wurden, war mein Vater 20 Jahre alt, meine Mutter 18. Sie wollten es nicht und hatten ihre Gründe dafür. Als ich geboren wurde, war der Eiserne Vorhang zu. Ich hatte keine Wahl. Bin ich deshalb schuld daran, dass die Berlinzulage wegfiel und die Regierung Kohl einen Solidaritätszuschlag eingeführt hat?

Wohin führen die Diskussionen?

Diskussionen auf sozialen Medien wie Facebook haben in der Regel kein besonders hohes Niveau. Sie spiegeln aber häufig die grundlegende Meinung wider. Die unterschiedlichen Meinungen gibt es auch auf anderen Ebenen. Pünktlich zur Wahl in Ostdeutschland sind verschiedene Bücher erschienen, in denen Historiker und Journalisten versuchen, den Graben zwischen Ost und West zu erklären und aufzubereiten. Nicht jedes Werk ist ohne Wertung!

Derartige Bücher und Diskussionen tragen sicher nicht dazu bei, dass sich Ost und West einander annähern. Vielleicht ist das aber auch gar nicht möglich: Meine Generation und die Generation meiner Eltern war 40 Jahre von Gleichaltrigen in Westdeutschland getrennt. Wir hatten ein komplett anderes Leben, das wir aufgeben mussten. Das war uns so nicht bewusst, als wir im Herbst 1989 durch die Straßen marschierten.

Einiges hätte anders laufen müssen, aber das ist nun nicht mehr zu ändern. Das halbe Leben, das uns trennt, kann wohl nicht in ein paar Jahrzehnten aufgeholt werden. In einigen Dingen sind wir einfach zu unterschiedlich. Hinzu kommen die Klischees, die ich eingangs schon erwähnte: Der Wessi weiß alles besser, der Ossi jammert rum. Würden beide einmal neutral aufeinander zugehen, dann wäre das vielleicht ein Anfang. Beschimpfungen wie die Zitate aus den sozialen Medien und die Verklärung der Vergangenheit helfen sicher nicht weiter.

Westberlin wäre nicht Westberlin geblieben

Wie würden wir heute leben, wenn es die Wiedervereinigung nicht gegeben hätte. Was wäre aus der kleinen Enklave Westberlin geworden? Wäre sie immer noch so urig, mit vielen Bäckereien, freundlichen Verkäufern, familiären Kneipen und der frechen Berliner Schnauze? Wären alle Entwicklungen an der Enklave vorbeigegangen und alle Krisen auch?

Ich denke, die Stadt hätte sich auch ohne die Wiedervereinigung verändert. Bäckereien und Kneipen sterben nicht wegen der Wiedervereinigung. Inflation und Wirtschaftskrise hätten vor Westberlin ebenso wenig Halt gemacht wie die Flüchtlingskrise und die Kriege, die Europa in den letzten drei Jahrzehnten direkt oder indirekt betroffen haben.

Wir im Osten verklären unsere Heimat mitunter, die Westberliner machen nichts anderes. Und somit gibt es doch etwa, das uns eint: Es ist das Gefühl, das früher alles besser war. Das war es doch aber schon immer. Im Osten und im Westen ebenso.


Beitragsbild © jettegsk


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