Ganzer halber Bruder – wenn Fremde zu Geschwistern werden
Ganzer halber Bruder ist eine Geschichte, die sich zwischen dem Alltag eines jungen Mannes, der mit Trisomie 21 geboren wurde, und dem halbkriminellen Milieu seines Bruders bewegt. Sunny, der eigentlich Roland heißt, lebt allein in seinem Elternhaus. Die Mutter liegt im Krankenhaus, es besteht wenig Hoffnung. Trotz seines Handicaps kommt der junge Mann im Alltag gut zurecht. Er wird von Yesim betreut, einer Sozialarbeiterin, die Sunny tief in ihr Herz geschlossen hat. Als Thomas in Sunnys Leben tritt und sich als Halbbruder vorstellt, gerät das stabile und gut funktionierende Konstrukt ins Wanken. Die Handlung bewegt sich zwischen Drama und Komödie und lässt den Zuschauer mit vielen verschiedenen Gefühlen zurück.
Ganzer halber Bruder: Das Wichtigste in Kürze
- Kinostart: 18.09.2025
- Drama, Komödie: FSK 12
- Dauer: 102 Minuten
- Hauptdarsteller: Christoph Maria Herbst, Nicolas Randel, Sesede Terziyan
- Regisseur: Hanno Olderdissen
- Deutschland, Senator Film u.a.
Drei Facts zum Film
- Ein sensibles Thema wird mit viel Empathie erzählt
- Die Stärke des mit Trisomie 21 geborenen jungen Mannes steht im Mittelpunkt
- Aus fiesen Machenschaften entwickelt sich eine tiefe Zuneigung – das ist die Message des Films
Sehenswert?
Auf jeden Fall! Leider wurde der Film in unserem Kino schnell wieder aus dem Programm genommen. In kleineren Kinos mit Ausrichtung auf Filme mit Tiefgang läuft er noch. Ich möchte ihn ein zweites Mal anschauen, weil mich die Entwicklung der Geschichte, das starke Spiel der beiden Hauptdarsteller und die Stärke der Menschen, die mit Trisomie 21 geboren werden, sehr berührt haben.
Ungleiche Halbbrüder erben ein Haus
Thomas saß wegen Immobilienbetrug im Gefängnis. Seine Entlassung erfolgt in eine ungewisse Zukunft. Er hat kein Geld und kein Zuhause. Sein Bewährungshelfer fordert einen festen Wohnsitz, sonst müsse er zurück in den Knast. Eine Nachricht wartet auf ihn: Er, der in einem Kinderheim aufwuchs, erbt von seiner Mutter ein Haus. Er muss es sich mit seinem Halbbruder teilen, der dort lebt. Es ist Sunny, der junge Mann, der sein Leben mit Trisomie 21 bestreitet und in dem Haus einen festen Alltag lebt.
Zunächst zweifelt Thomas die Nachricht an. Er kennt seine Mutter nicht und behauptet, keine zu haben. Sie liegt im Sterben und hat verfügt, dass ihr Testament bereits verlesen wird. Sie hat zwei Söhne von unterschiedlichen Vätern. Beide sollen das Haus zu gleichen Teilen erben. Thomas sieht darin eine Chance: Es ist ein Einfamilienhaus in sehr guter Lage mit einem Garten. Der Wert könnte siebenstellig sein. Es müsse doch ein Leichtes sein, den Halbbruder zu entfernen und das Haus zu kaufen. Er fährt für ein erstes Kennenlernen mit seinem Cabrio zu der Adresse.
Sunnys Leben im Elternhaus
Sunny ist in der Lage, mit verschiedenen Hilfestellungen ein unabhängiges Leben zu führen. Eine Sozialarbeiterin betreut ihn, zu ihr hat er ein vertrauensvolles Verhältnis hat. Er kann sich allein versorgen und geht einer Arbeit nach, die er mit dem Bus erreicht. Sein Zuhause ist sein Hafen. Er fühlt sich sicher. Bei der Einhaltung seiner Termine hilft ihm ein großer Kalender mit Piktogrammen, die ihm vertraut sind.
Thomas steht unangemeldet vor der Tür und stört das Gleichgewicht, das sich Sunny ohne seine Mutter aufgebaut hat. Der junge Mann ist verunsichert, er will den Eindringlich loswerden. An die Geschichte mit dem Bruder glaubt er nicht. Thomas spricht mit der Sozialarbeiterin und kann seine Identität überzeugend darlegen. Er versucht, das Vertrauen von Sunny zu gewinnen, doch dabei geht er nicht gerade sehr behutsam vor. Sein Fokus liegt auf dem wertvollen Haus: Er möchte es zu Geld machen. Das funktioniert nicht, solange Sunny darin wohnt. Also möchte er ihn loswerden.
Ein Song von Boney M. trägt die Handlung
Nur langsam fasst Sunny Vertrauen. Hilfreich ist das Cabrio von Thomas, von dem Sunny dann doch fasziniert es. Es hat eine Musikanlage. Sunny, der eigentlich Roland heißt, besitzt eine einzige Kassette, auf der er sein Lieblingslied aufgenommen hat: Es ist von Boney M. und heißt „Sunny“. Roland möchte genau so genannt werden. Sein realer Name ist für ihn nicht mehr relevant.
Der Film schwankt zwischen Drama und Komödie. In die lustigen und leichten Szenen, in denen sich Thomas oft blamiert, wechseln sich ab mit Gemeinheiten, die er sich ausdenkt, um dafür zu sorgen, dass Sunny sein autarkes Leben im Haus seiner Mutter verliert.
Thomas stört den festen und gesicherten Tagesablauf von Sunny nicht nur durch seine Anwesenheit. Er bringt bewusst Abläufe durcheinander. Sunny ist verunsichert, er zweifelt an sich selbst und er macht Fehler. Es zerreißt beim Zuschauen ein wenig das Herz.
Einblick in das Leben mit Trisomie 21
Nicolas Randel wurde mit Trisomie 21 geboren. Schon seit seiner Schulzeit arbeitet er als Schauspieler. „Ganzer halber Bruder“ ist nicht sein erster Film: In seiner Heimatstadt Köln spielt er Theater, und er ist als bildender Künstler tätig. Über sein privates Leben ist nicht viel mehr bekannt. Im Film zeigt er, dass Menschen mit diesem Handicap in der Lage sind, mithilfe von Unterstützung selbstbestimmt allein zu wohnen und arbeiten zu gehen. Uns hat die Struktur dieses Lebens beeindruckt und sehr berührt.
Inwieweit die Darstellung an die Wirklichkeit angelehnt ist, können wir nicht beurteilen. Der Film basiert nicht auf einer wahren Geschichte. Doch es ist eindrucksvoll zu sehen, wie der junge Mann autark in seinen gefestigten Strukturen agiert. Thomas wirft ihn aus der Bahn. Es dauert lange, bis Sunny sich seinem Bruder öffnen kann. Dass er es auf den Verkauf des Hauses abgesehen hat, kann Sunny nicht ahnen. Die Szenen, in denen Thomas die Strukturen von Sunny bewusst verletzt, sind nicht gut auszuhalten. Du entwickelst eine Abneigung, gegen den Mann und seine kriminellen Machenschaften.
Das Zusammenspiel der Schauspieler ist authentisch
Christoph Maria Herbst ist für starke Rollen mit komödiantischem Flair und tragenden Dialogen bekannt. In Stromberg und der Trilogie mit dem Vornamen, dem Nachnamen und dem Spitznamen läuft er in dieser Kunst zur Höchstform auf. In „Ganzer halber Bruder“ zeigt er eine andere Seite, die aber ebenso überzeugend ist. Er ist genervt, dass er ein Haus erbt, in dem sein Halbbruder ein lebenslanges Wohnrecht genießt und dieses auch nicht aufgeben wird. Er kann es nicht, weil sein Zuhause der Mittelpunkt ist, um den sich sein Leben dreht. Dort findet er den Halt und die Sicherheit, die er braucht, um den Alltag überhaupt meistern zu können.
Thomas agiert bewusst mit dem Ziel, den jungen Mann in eine Wohngruppe zu drängen. In diesem Fall wäre der Weg für einen Verkauf frei. Sunny versteht die Welt nicht mehr: Plötzlich geraten Dinge durcheinander, die über einen langen Zeitraum sehr gut funktioniert haben. Woran das liegt, kann er nicht ermessen. Doch seine Sozialarbeiterin wird stutzig. Und es passiert noch etwas anderes: Thomas öffnet sein Herz, für den Halbbruder. Er steht unter dem Druck seines Bewerbungshelfers und gerät in einen emotionalen Zwiespalt.
Das Zusammenspiel mit Nicolas Randel ist perfekt inszeniert. Die Reaktionen von Sunny sind oft überraschend. Sie sind stark und sie weisen Thomas in die Schranken. Über die Dreharbeiten gibt es wenig Informationen, aber es liegt auf der Hand, dass beide Schauspieler nicht nur in ihrer Rolle sehr gut miteinander harmonieren. Es besteht eine Chemie, die Thomas schon nach kurzer Zeit nicht mehr lösen kann. Er gerät in einen Zwiespalt und überdenkt Entscheidungen, obwohl er sich damit selbst in Schwierigkeiten bringt.
Von der Abneigung zu einer tiefen Verbindung
Aus der Sicht von Thomas ist es anfangs verständlich, dass er den Halbbruder einfach nur loswerden will. Als er merkt, dass dies auf freiwilliger Basis nicht möglich ist, nutzt er ihn für seine Zwecke aus. Sunny hat inzwischen Vertrauen gefasst und spielt in einem Spiel mit, das er nicht ermessen kann. Die anfängliche Abneigung wandelt sich langsam, aber stetig zu einer immer engeren Verbindung. Thomas sieht seine Mutter, als der Sunny ins Krankenhaus begleitet. Als sie stirbt, steht er seinem Bruder bei.
Durchschnittliche Kritiken – es fehlen die Überraschungsmomente
Die Kritiken waren eher durchschnittlich. Ein Schwachpunkt soll die vorhersehbare Handlung sein, die wenig Überraschungen bereithält. Die Resonanz auf den Film war in unserem Potsdamer Kino eher schwach: Das war vermutlich der Grund, aus dem „Ganzer halber Bruder“ so schnell aus dem Programm genommen wurde.
Wir haben im Kino viele Überraschungsmomente erlebt. Nach dem Anschauen des Trailers haben wir eine ganz andere Geschichte erwartet. In der Mitte wird die Handlung spannend, wir haben uns emotional auf die Seite von Sunny begeben und gehofft, dass sich alles zum Guten wendet. Wie der Film endet, möchte ich an dieser Stelle nicht verraten. Aber das nur die Musik von Boney M. im Ohr bleibt, wie es in einer Rezension heißt, kann ich so nicht bestätigen.
Eindrucksvolles Porträt über das Leben mit Trisomie 21
In erster Linie hat uns der Film das Leben mit Trisomie 21 nährgebracht. Aus bekannten Gründen gibt es heute nicht mehr viele Menschen, die mit dem Gendefekt geboren werden. Ich habe nach meinem Schulabschluss eine Ausbildung zur Krankenschwester absolviert und bin mit dem Handicap und seinen Auswirkungen früh vertraut gemacht worden. Schon in der ehemaligen DDR war bekannt, dass die Kinder bildungs- und entwicklungsfähig sind. Die Ausprägung des Defekts kann leichter oder schwerer sein. Doch die Menschen können in Teilen ein selbstbestimmtes Leben führen.
Die Ebene, auf der dieses eigenständige Leben möglich ist, hat dieser Film auf eine eindrucksvolle Weise vermittelt. Vielleicht bringt er uns das Handicap näher und zeigt, wie liebenswert die Menschen sind. Vielleicht macht es dem einen oder anderen Mut, sich in der Schwangerschaft bewusst für das Leben mit dem Handicap zu entscheiden. Wenn das gelingt, hat der Film eine sehr wichtige Message erfüllt.
Für uns, die wir die Familienplanung lange hinter uns gelassen haben, ist der Film auf vielen anderen Ebenen ein Gewinn. Wir sollten den Menschen mit Achtung und Hilfsbereitschaft begegnen und sie, so gut es geht, in die Gesellschaft integrieren. Sie sind in der Lage, viele Dinge allein zu schaffen. Je mehr Unterstützung wir leisten, desto selbstständiger sind sie. Uns hat der Film sehr berührt. Wir werden ihn im Stream sicher noch einige Male anschauen.


ISSN 3053-674X
TS 2025-46