22 Bahnen – frühe Verantwortung als Zerreißprobe
Ein Film mit Luna Wedler, Jannis Niewöhner und Laura Tonke? Den musste ich sehen. Als Fan des deutschen Films habe ich mich ja immer wieder geoutet. Bei „22 Bahnen“ kommt hinzu, dass meine Lieblingsschauspieler in einem Streifen zu sehen sind. Ich habe mich auf den Filmstart gefreut und bin nicht enttäuscht worden. Dennoch habe ich das Kino etwas unbefriedigt verlassen, denn die Handlungsstränge sind nicht immer sofort nachvollziehbar. Zumindest dann nicht, wenn du nicht weißt, dass es sich um die Verfilmung eines Bestsellers handelt, der verschiedene Buchpreise gewonnen hat. An mir ging das vorbei. Und so muss ich entweder das Buch lesen oder recherchieren, wie es weitergeht. Vielleicht gibt es auch eine Fortsetzung? Zum Aufbau der Geschichte könnte es passen.
22 Bahnen: Das Wichtigste in Kürze
- Kinostart: 04.09.2025
- Drama: FSK 12
- Dauer: 102 Minuten
- Hauptdarsteller: Luna Wedler, Zoë Baier, Jannis Niewöhner
- Regisseurin: Mia Maariel Meyer
- Deutschland, Constantin Film
Drei Facts zum Film
- Die Mutter als Alkoholikerin: Ein schwieriger Stoff, der nachdenklich macht
- Tilda, eine hochbegabte Studentin, ist zwischen der Verantwortung für ihre kleine Schwester und ihrem eigenen Weg hin- und her gerissen
- Auch die Vergangenheit belastet die junge Frau: Nur das Schwimmen schenkt ihr Ruhe und Gleichgewicht
Sehenswert?
Die großartige Luna Wedler rettet mit ihrem Spiel eine Geschichte, die ein wenig undurchdringlich ist und deren Ende offen bleibt. Wie bei so vielen Romanverfilmungen, solltest du das Buch kennen, um ein wenig besser durch die Handlung zu kommen, als mir das gelungen ist. Die Frage, die ich mir während des ganzen Films stellte, wird nicht beantwortet: Was wird aus der kleinen Schwester? Sehenswert fand ich den Film dennoch, denn das Thema bewegt und die Schauspieler setzen ihre Rollen, so habe ich es empfunden, authentisch um.
Die Flucht ins Schwimmbad
22 Bahnen heißt der Film, weil Tilda und ihre kleine Schwester Ida im Schwimmbad eine Auszeit von dem Leben mit ihrer alkoholkranken Mutter finden. Sie gehen nur im Regen schwimmen: Ida hat Probleme mit ihrem Selbstwertgefühl und möchte im Schwimmbad möglichst allein sein. Die Mutter trinkt und kümmert sich gar nicht um ihre Töchter. Ihr Leben dreht sich um den Alkohol und ihren Gesundheitszustand: Sie schläft, wütet im Rausch oder trinkt sich zur Besinnungslosigkeit.
Tilda ist Anfang 20. Sie studiert Mathematik und ist hochbegabt. Ihr Leben dreht sich um die Betreuung ihrer kleinen Halbschwester, ihren Job an einer Discounterkasse und um wenige Freunde, mit denen sie gelegentlich einen Abend verbringt. Sie trägt ein privates Schicksal, das sie immer wieder einholt, und sie bekommt von ihrem Professor ein einzigartiges Angebot: In Berlin könnte sie eine Promotionsstelle antreten. Es wäre ihr Lebenstraum. Doch was wird dann aus ihrer kleinen Schwester?
Das Spiel von Luna Wedler und Laura Tonke
Luna Wedler und Laura Tonke sind zwei Schauspielerinnen, die durch ihre Wandlungsfähigkeit und ein eindrucksvolles Spiel bereits in anderen Filmen aufgefallen sind. In „Das schönste Mädchen der Welt“ habe ich Luna Wedler das erste Mal gesehen. Ich fand sie einfach genial.
Laura Tonke spielt Rollen im Kino, im Fernsehen und im Theater. Ihre Liste an Produktionen ist sehr lang. Als junge Schauspielerin gewann sie die Lilli-Palmer-Gedächtsniskamera. Da wir nur selten Fernsehfilme schauen, fiel sie mir das erste Mal in der Komödie „Alles Fifty Fifty“ auf. Ihre coole, leicht verpeilte Art hat mir gefallen. Im Kinofilm „Feste und Freunde“ spielt sie eine ähnliche Rolle. Doch in der Verkörperung der alkoholkranken Mutter in „22 Bahnen“ sehen wir eine andere Facette der Schauspielerin, die überrascht und auch erstaunt.
Es ist schwer, gegen die Frau, der das Wohl der Töchter ganz egal ist, keine Abneigung zu entwickeln. Du hast im Hinterkopf, dass sie unter einer schweren Abhängigkeit leidet, von der sie sich allein nicht lösen kann. Doch sie unternimmt auch nichts, um sich helfen zu lassen. Stattdessen negiert sie ihre Alkoholkrankheit und vermittelt den Töchtern, dass sie Hass und Abneigung gegen sie empfindet.
Luna Wedler alias Tilda kontert mit einer tiefen Abneigung gegen die Mutter. Sie sorgt sich ausschließlich um ihre kleine Schwester. Von den Abstürzen ihrer Mutter ist sie genervt und angewidert. Als sie die Mutter ins Krankenhaus bringen muss, tut sie ihre Pflicht. Eine Bindung scheint nach den vielen Jahren der Vernachlässigung nicht mehr zu bestehen. Der Film wird von den beiden Schauspielerinnen getragen und wäre bei einer weniger prominenten Besetzung vermutlich nicht so überzeugend.
Zoë Baier und Jannis Niewöhner sind blass
Für die junge Zoë Baier ist es der zweite Film. Sie bewarb sich so lange auf Castings, bis es im fünften Anlauf mit der Rolle der Ida klappte. Welche Rolle es spielt, dass ihr Papa Fußballer war und derzeit als Sportkoordinator beim RB Leipzig arbeitet, ist nicht bekannt. Ich persönlich finde das Spiel des Mädchens nicht klug. Für eine schüchterne Grundschülerin, deren Leben durch die schwere Alkoholabhängigkeit der Mutter bestimmt wird, ist sie viel zu altklug. Ihre Entwicklung hin zu mehr Selbstbewusstsein und Selbstständigkeit füllt die Rolle nicht aus, Als Zuschauer erahnst du, wie es gemeint ist und wohin der Film führen soll. Aber dieses Ziel verkörpert nicht Zoë Baier, sondern Luna Wedler.
Von Jannis Niewöhner bin ich eigentlich ein großer Fan. Doch in diesem Film hat er mich leider enttäuscht. Aufgrund der persönlichen Geschichte seiner Figur hat er jedes Recht, depressiv zu sein. Aber er verkörpert die Rolle ein bisschen zu düster und vor allem sehr blass. Hinzu kommt das schlechte Double, das ihn bei seinen Bahnen im Schwimmbad ersetzt: Dass Jannis Niewöhner die Rolle des Viktor verkörpert, siehst du erst nach einer guten halben Stunde.
Romanverfilmungen und ihre Tücken
Der Film „22 Bahnen“ ist die Verfilmung des Debütromans der jungen deutschen Autorin Caroline Wahl. Das gleichnamige Werk erschien im Jahre 2023 und wurde ein Bestseller, der sich mehr als eine Million Mal verkaufte. Wir sind ohne diese Informationen in den Film gegangen, sondern haben ihn wegen der Schauspieler ausgewählt und weil wir den deutschen Film sehr mögen. Dass es sich um eine Romanverfilmung handelte, sahen wir erst im Abspann.
Ohne die Kenntnis des Romans ist die Handlung ein wenig zäh. Ich habe den Film ein zweites Mal im Kino angeschaut und konnte erst dann die vollständigen Zusammenhänge ergründen. Somit ist es von Vorteil, wenn du das Buch kennst oder dich vorab mit einer Rezension oder dem Thema beschäftigst. Vermutlich ist die Entwicklung der kleinen Ida im Roman sehr viel besser dargestellt, als im Film. Und vielleicht hat der Roman auch ein Ende. Ich bin kein Freund des „Happy Ends“, es darf gern dramatisch sein. Aber die Handlung des Films geht so plötzlich in den Abspann über, dass der Zuschauer nicht weiß, wie sich das Leben der kleinen Ida weiter entwickeln wird.
Du kannst deine Schwester nicht allein lassen
Das ist der Gedanke, den mich während des gesamten Films begleitete: Tilda, du kannst deine Schwester nicht allein lassen. Der Professor weist Tilda immer wieder auf ihre große Chance hin, die in Berlin auf sie wartet. Die Promotionsstelle ist exakt auf ihr Fachgebiet ausgerichtet. Tilda lehnt sofort ab, doch ihr Professor lässt nicht locker. Schließlich will sie es sich überlegen und versucht, ihre kleine Schwester zu stärken, dass sie ihr Leben mit der alkoholkranken Mutter allein meistern kann.
Wie der Konflikt im Buch aufgelöst wird, weiß ich nicht. Im Film bleibt er offen. Und das ist der Kritikpunkt, der für mich bleibt. Ich habe mich bislang nicht entschieden, das Buch zu lesen, da die Thematik nicht zu der Literatur gehört, die ich gern lese. Doch der Film lässt mich ahnungslos zurück: Mich interessiert, wie die Schwestern Tilda und Ida ihren Weg weitergehen. Wird die Mutter es schaffen, ihr Alkoholproblem zu lösen? Kann sich Ida mit kaum zehn Jahren auf eigene Füße stellen? Wird sie ihre Schwester im Buch nach Berlin begleiten oder entscheidet sich Tilda gegen die lukrative Stelle, um weiterhin für die Kleine da zu sein? All diese offenen Frage hat der Film in meinen Augen nicht zufriedenstellend gelöst.
Es ist die Tücke einer Romanverfilmung: Sie wird der Komplexität des Stoffes oftmals nicht gerecht. Das war bei Harry Potter so, bei 50 Shades of Grey, bei der Twilight-Saga. Ich habe all diese Filme geschaut, aber keins der Bücher gelesen. Obwohl meine Söhne große Harry-Potter-Fans sind, haben sie es nicht geschafft, mir die Lücken zu vermitteln. Es ist schade, dass Filme nur einen Teil der Handlung wiedergeben können und dass das Lesen des Buches mehr oder weniger Voraussetzung ist, um den Film zu verstehen. Vielleicht ist für „22 Bahnen“ eine Fortsetzung geplant. Offiziell ist sie aber nicht angekündigt.
22 Bahnen: Ein guter Film mit offenem Ende
22 Bahnen ist ein Film mit starken Hauptrollen, der ein sensibles Thema aus der Mitte der Gesellschaft anpackt. Die Familiensituation ist extrem: Es gibt keinen Vater und keine Großeltern, die Tilda helfen könnten, die Mehrfachbelastung zwischen Studium, Nebenjob und der Betreuung einer Schwester im Grundschulalter zu stemmen. Freunde hat die Familie nicht, und offenbar ist auch das Jugendamt nicht involviert. Normalerweise müsste es jemandem auffallen, dass die Mutter nicht in der Lage ist, ihre minderjährige Tochter zu betreuen. Spätestens im Krankenhaus hätten Fragen aufkommen müssen. Ob das Buch sie stellt, weiß ich leider nicht.
Der Film lebt von dem guten Spiel von Luna Wedler und von der berührenden Handlung. Er ist uneingeschränkt sehenswert, vor allem dann, wenn du den Roman gelesen hast und dir gern die Verfilmung anschaust. Aber auch als Fan der Schauspieler oder des deutschen Films solltest du „22 Bahnen“ nicht verpassen. Du verlässt das Kino nachdenklich. Wenn du in deinem Kreis mit Alkoholabhängigkeit konfrontiert bist, wirst du Muster wieder erkennen. Ansonsten bist du vermutlich froh, dass du, als du ein Kind warst, in besseren Verhältnissen aufwachsen durftest.


ISSN 3053-674X
TS 2025-03