Der 9. November: Schicksalstag der Deutschen?
Ist der 9. November der Schicksalstag der Deutschen? Der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble prägte den Begriff anlässlich des 29. Jahrestages zum Fall der Mauer im Jahre 2018. Wolfgang Niess, Historiker und Journalist, veröffentlichte im Jahre 2021 ein Buch mit gleichem Titel. Doch wie gerechtfertigt ist die Bezeichnung und was wissen die Menschen über die Bedeutung dieses Tages? Zeitzeugen gibt es nur noch für den Mauerfall: Die anderen Ereignisse sind mindestens acht Jahrzehnte her. Schauen wir einmal zurück, in die deutsche Geschichte, und suchen wir nach Antworten.

Was war los, am 9. November?
Fragen wir die junge Generation zwischen 15 und 25 Jahren, können nicht alle eine Antwort geben. Im Geschichtsunterricht wird die Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts in der Regel gegen Ende der Klasse Zehn behandelt. Wenn die Lehrer ihren Lehrplan schaffen.
Unsere Söhne, geboren in den letzten Jahren der DDR und im frisch wiedervereinigten Deutschland, wurden mit der Thematik in der Schule kaum konfrontiert. Dafür wussten sie alles über die Feldzüge des Napoleon und über die französische Revolution. Von den Enkeln wissen wir, dass dieses Thema auch in der nachfolgenden Generation ein Schwerpunkt im Lehrplan ist. Die wechselvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts findet hingegen kaum Beachtung. Im Abitur beginnen die Schüler, so sie denn Geschichte belegen, wieder von vorn und befassen sich intensiv mit der Völkerwanderung.
Vom Osten keine Ahnung
„Vom Osten keine Ahnung“, schreibt Michael Schon vom RBB im Mai 2024 und fordert unter anderem einen Lehrstuhl für DDR-Geschichte und die Überarbeitung der Lehrpläne. Den Erzählungen von Eltern und Großeltern solle hingegen nur wenig Glauben geschenkt werden, weil „nicht selten ein mildes Licht auf die DDR falle.“ Derartigen Aussagen widerspreche ich vehement, aber mit diesem Thema möchte ich mich in einem anderen Artikel auseinandersetzen.
Der Untergang der DDR wird heute mit dem 9. November stärker in Verbindung gebracht als die anderen historischen Ereignisse, die dieses Datum markieren. Dies mag daran liegen, dass es sich um ein geschichtliches Ereignis der jüngsten Vergangenheit handelt, die bis heute viele Zeitzeugen hat. Ein Lehrstuhl für Geschichte, wie ihn Michael Schon fordert, wäre tatsächlich angebracht. Aber nicht, um die Erzählungen der Zeitzeugen an die Jugend richtigzustellen, sondern um zu vermitteln, warum dieser Tag für die deutsche Geschichte so wichtig ist.
Tatsache ist: Viele junge Menschen haben wirklich keine Ahnung. Sie können die Frage nach dem 9. November allenfalls mit dem Mauerfall beantworten. Und das oftmals auch nur dann, wenn sie in Berlin aufgewachsen sind oder wenn die Eltern oder Großeltern eine ostdeutsche Biografie haben. Die anderen Ereignisse des 9. November, die Deutschland nachhaltig geprägt haben, sind ihnen fremd.
Zwischen dem Reichstag und dem Brandenburger Tor in Berlin sind Gedenktafeln in Form von weißen Kreuzen aus Holz für Mauertote an einem Zaun angebracht. Zwei junge Mädchen, etwa 20 Jahre alt, standen davor und fragten sich, wer hier gestorben wäre. Sie drehten sich um und fragten uns. Ganz erstaunt nahmen sie zur Kenntnis, dass sie sich auf dem ehemaligen Grenzstreifen befanden und dass Menschen an der Mauer erschossen wurden oder bei einem Fluchtversuch ums Leben kamen.
Wir kamen auf unsere ostdeutsche Herkunft zu sprechen. Ihr konntet wirklich nicht über die Grenze fahren?, fragten sie. Dann erzählten sie von sich: Sie wären aus Düsseldorf, wollten Berlin kennenlernen und hätten von den Ereignissen irgendwann mal gehört. Im Geschichtsunterricht hätten sie weder die Nachkriegszeit noch die DDR behandelt. Sie wollten wissen, ob es noch mehr Erinnerungsstätten gibt, und tippten alles in ihr Handy, was wir weitergeben konnten. Nach etwa 20 Minuten verabschiedeten wir uns. Das Gespräch hat in uns lange nachgewirkt.
Ein Datum – drei Ereignisse
Wenn der 9. November nun ein Schicksalstag für die Deutschen ist: Sollte ein breites Wissen über die Ereignisse nicht Voraussetzung für diese prägende Begrifflichkeit sein? Es reicht nicht aus, wenn sich Politiker und Historiker dieses Wortes bedienen und vor allem junge Menschen gar nicht wissen, welches Schicksal nun eigentlich gemeint ist. Genau genommen sind es fünf. Begeben wir uns doch einmal hinein, in die Geschichtsstunde.
1918 – 1938 – 1989
1989 öffnete die DDR ihre Grenzen: 28 Jahre nach dem Mauerbau fielen sich die Menschen in Berlin in einem Freudentaumel in die Arme. 1918 rief Philipp Scheidemann die Republik aus und beendete die Monarchie der preußischen Herrscher. Historiker werten auch dieses Ereignis als Fortschritt. Der 9. November 1938 ging als einer der dunkelsten Tage in die Geschichte ein: Mit der Reichsprogromnacht begann die Verfolgung der Menschen jüdischen Glaubens. Zu diesen drei prägenden historischen Ereignissen kommen zwei Versuche der Auflehnung gegen Adolf Hitler. Dass alle auf ein Datum fallen, kann in der Geschichte als außergewöhnlich bezeichnet werden. Dazu konzentrieren sie sich auf ein einziges Land: Deutschland.
Der 9. November ist der deutsche Schicksalstag. An diesem Datum verdichtet sich unsere jüngere Geschichte in ihrer Ambivalenz, mit ihren Widersprüchen, ihren Gegensätzen. Das Tragische und das Glück, der vergebliche Versuch und das Gelingen, Freude und Schuld: All das gehört zusammen. Untrennbar.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble am 9. November 2018 in seiner Rede anlässlich des 100. Jahrestages der Novemberrevolution
Die Rede bezieht sich nicht nur auf die Novemberrevolution: Die geschichtlichen Ereignisse vereinen Freiheit und Verbrechen an einem wiederkehrenden Datum.
Dieser Tag macht uns bewusst, dass wir Deutsche in unserer Geschichte zu großartigen Aufbrüchen hin zu Demokratie und Freiheit in der Lage waren – dafür stehen 1918 und 1989. Aber der 9. November 1938 muss uns auch eine Mahnung sein und bleiben. Dieser Tag, der daran erinnert, dass es Deutsche waren, die zum Menschheitsverbrechen der Shoah fähig waren.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 9. November 2024 anlässlich seiner Rede zum 35. Jahrestag des Mauerfalls
Die Ereignisse an diesem Tag sind sehr gegensätzlich zu bewerten. Die Reichsprogromnacht ist der Tiefpunkte der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, die Wiedervereinigung ist der Höhepunkt. Das Ende der Monarchie liegt irgendwo dazwischen: 1918 haben es viele Menschen als positiv bewertet. Doch wenn wir uns heute die europäischen Monarchien anschauen? In Skandinavien sind die Menschen glücklicher als hierzulande.
Unser Monarch hieße heute Kaiser oder König Georg-Friedrich von Preußen. Vielleicht würde er das Land besser repräsentieren, als es ein Bundespräsident vermag. Ob er uns, das deutsche Volk, glücklicher machen würde, werden wir nie herausfinden. Sein Ururgroßvater Wilhelm II. dankte am 9. November 1918 ab, seitdem ist Deutschland eine Republik.
9. November 1918: Das Ende der Monarchie in Deutschland
Zwei Tage vor dem offiziellen Ende des Ersten Weltkrieges weilte Kaiser Wilhelm II. nicht mehr in Berlin: Er war bereits am 29. Oktober nach Spa geflohen. Dort befand sich das Große Hauptquartier. Bis zu seinem Aufbruch nach Spa residierte er in seinen Gemächern im Neuen Palais in Potsdam. Nach seinem Aufbruch sollte er nie wieder in seine Heimat zurückkehren.
Auslöser seiner Flucht war der Kieler Matrosenaufstand: Die Kameraden meuterten gegen den Befehl, sich der starken britischen Marine im Kampf zu stellen und einer sicheren Niederlage entgegen zu gehen. Mit ihrer Weigerung bereiteten sie den Weg zur Novemberrevolution.
Am 9. November 1918 fanden Arbeiter und Oppositionelle zu einer überwiegend friedlichen Massendemonstration zusammen. Die Staatsgewalt schloss sich den Demonstranten an. Sie zogen in das Zentrum, entlang auf der Straße Unter den Linden zum Berliner Schloss.

Max von Baden treibt die Abdankung voran
Kaiser Wilhelm II. konsultiert in Belgien seine Berater mit dem Ziel, eine Entscheidung über das weitere Vorgehen zu treffen. Reichskanzler Max von Baden legt ihm die Abdankung nahe. Wilhelm II. erklärt sich zu einer Abdankung bereit: Er legt seinen Titel als Kaiser nieder und führt die Geschäfte als König von Preußen weiter. Das genügte Max von Baden nicht: Ohne das finale Einverständnis des Kaisers verkündete er um 11.30 Uhr dessen Abdankung und ernannte Friedrich Ebert zum neuen Kanzler. Dies stand ihm nicht zu, doch vermutlich wollte er selbst die Nachfolge des Kaisers als neuer Regent einer Republik antreten.
Um 14 Uhr rief Philipp Scheidemann die „deutsche Republik“ aus. Zwei Stunden später folgte Karl Liebknecht mit der Ausrufung einer „freien sozialistischen Republik.
Kaiser Wilhelm II. floh einen Tag später in die Niederlande. Dort gewährte ihm seine Cusine, Königin Wilhelmina der Niederlande, Asyl. Sie wollte ihm das Schicksal der Romanows ersparen. Das Abdankungsschreiben unterzeichnete er am 28. November 1918.
Die unmittelbare Folge der Abdankung Kaiser Wilhelms II. war die Gründung der Weimarer Republik, die aufgrund der Ereignisse des Tages auf den 9. November 1918 datiert ist.
9. November 1938: Die Reichsprogromnacht
Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 ist als Reichsprogromnacht in die deutsche Geschichte eingegangen. In älteren Bezeichnungen wird auch von der Kristallnacht oder der Reichskristallnacht gesprochen. Der Begriff bezieht sich unter anderem auf die zahllosen zerbrochenen Scheiben, die in der Nacht an Synagogen und jüdischen Geschäften zerbrochen waren.
Die Verfolgung und systematische Entrechtung der Juden begann bereits im Jahre 1933. Schrittweise wurden sie aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen. Die Reichskristallnacht symbolisiert einen Höhepunkt: Überall in Deutschland wurden Synagogen gebrandschatzt und jüdische Geschäfte zerstört.
Die Aktionen wurden von den Nationalsozialisten gezielt gesteuert. Sie gingen mit der Ermordung von Juden einher. Von der Zerstörung waren neben den Geschäften und Synagogen auch Friedhöfe und Wohnungen betroffen.
Attentat auf Ernst Eduard vom Rath
Am 7. November 1938 schoss der polnische Herschel Grynszpan in Paris den Diplomaten Ernst Eduard vom Rath nieder. Er war Botsschaftssekretär und hatte somit keine höchste oder bedeutende Position inne. Grynszpan begründete sein Attentat mit der Deportation seiner Eltern und seiner Geschwister. Ernst Eduard vom Rath starb zwei Tage später, am 9. November 1938, an den Folgen der Schussverletzungen.
Heute gilt es als sicher, dass die Progrome gegen die jüdische Bevölkerung längere Zeit von den Nationalsozialisten geplant waren. Das Attentat galt als Vorwand für die Vollstreckung dieser geplanten Aktionen.
Es ist die berechtigte und verständliche Empörung des deutschen Volkes über den feigen Meuchelmord an einem Diplomaten.“
Joseph Goebbels am 10. November 1938

In der Folge der Reichsprogromnacht wurden zehntausende Juden in Schutzhaft genommen und in Kolonnen durch die Straßen geführt. Drei Jahre später begann der Holocaust mit der Vernichtung der Juden in den Konzentrationslagern. Dennoch gilt ein Zusammenhang zwischen der Reichsprogromnacht und dem Holocaust unter Historikern als nicht eindeutig bewiesen.
9. November 1989: Mauerfall
Die Unzufriedenheit der DDR-Bürger entlud sich ab dem Sommer 1989 in einer breiten Flüchtlingsbewegung über Ungarn und die damalige Tschechoslowakei: Die Menschen flohen in die Botschaften der Länder. Im August erreichten Hunderte über Ungarn Österreich und reisten von dort aus weiter in die BRD. Ungarn öffnete die Grenzen am 11. September 1989. In der Konsequenz schwoll der Strom derjenigen an, die die DDR verlassen wollten. Zu diesem Zeitpunkt war es eine Entscheidung für immer. Oder zumindest für eine lange Zeit.
Flucht in die Prager Botschaft
Bereits im Juli flohen die Menschen aus der DDR in die Prager Botschaft. Bis zum September stieg die Anzahl auf 4.000 Menschen. Babys waren darunter, mit ihren Eltern und Großeltern. Sie harrten dort über Wochen aus, die Bedingungen in den Zelten wurden immer schwieriger.
Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…“
Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher am 30. September 1989 vom Balkon der Prager Botschaft
Am 30. September reiste der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher nach Prag, um den Botschaftsflüchtlingen persönlich die Nachricht zu überbringen, dass ihre Ausreise nach Westdeutschland nun unmittelbar bevorstünde. Heute gilt dieser Abend als eines der wichtigsten Ereignisse im Vorfeld der Wiedervereinigung.
Am 18. Oktober 1989 gab der Staatsratsvorsitzende und Generalsekretär der SED, Erich Honecker, nach 16 Jahren sein Amt ab. Nachfolger wurde sein „Kronprinz“ Egon Krenz. Doch der Wechsel an der Spitze der Macht half nichts: Am 9. November 1989 öffneten sich die Grenzen zwischen Ost und West.
Sofort. Unverzüglich
Am 9. November 1989 öffneten sich gegen 21.20 Uhr die Schlagbäume an der Bornholmer Straße in Berlin. Seit mehr als einer Stunde standen die Menschen auf beiden Seiten des Grenzübergangs und warteten, ob die Nachricht der Tagesschau stimmte: Die DDR hatte die Öffnung der Grenzen verkündet. Das Datum war in der Geschichte kein Unbekanntes: Es veränderte das Leben der Deutschen bereits zum dritten Mal.
Laut der Aussage von Günter Schabowski, Mitglied des Politbüros und einer der hohen SED-Funktionäre, galt diese Regelung „Sofort. Unverzüglich.“ Die Bilder der feiernden Menschen im geteilten Berlin gingen um die Welt und lösen bis heute Emotionen aus.
Die Grenzen blieben offen, im März 1990 wählten wir das erste Mal eine demokratische Regierung. Am 1. Juni 1990 wurde die D-Mark eingeführt. Die Wiedervereinigung erfolgte am 3. Oktober 1990 durch einen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland.
Weitere Ereignisse vom 9. November
Am „Schicksalstag der Deutschen“, als solcher wird der 9. November gern bezeichnet, passierten außerdem zwei gescheiterte Attentate auf Adolf Hitler: Eins im Jahre 1923 in München, später als „Hitperputsch“ bezeichnet. Ein zweites ereignete sich im Jahre 1939, am Vorabend des 9. November. Es wurde von Georg Eiser im Münchener Bürgerbräukeller verübt.
Und noch ein Ereignis überschattet den 9. November: Er steht im Zusammenhang mit der gescheiterten Märzrevolution aus dem Jahre 1848: An diesem Tag der Revolutionsführer Robert Blum ermordet.
Warum der 9. November nicht unser Nationalfeiertag ist
Im Jahre 1990 stand die Frage im Raum, ob der 9. November nicht als Feiertag für die Wiedervereinigung ausgerufen werden sollte. Doch die Geschichte wäre diesem Datum nicht gerecht geworden. Die Menschen, die am 9. November 2024 im Herzen Berlins zwischen dem Checkpoint Charlie und dem Regierungsviertel gemeinsam „Freiheit“ von Marius Müller Westernhagen sangen, wurden in ihrer Freude auch an den 9. November 1938 erinnert: In Worten und in mahnenden Bildern. Zu den Ereignissen dieses Tages hätte ein ausgelassener Feiertag nicht gepasst.
Aber ist der 9. November nun der Schicksalstag der Deutschen? Ich assoziiere den Begriff negativ, dabei ist die Wiedervereinigung ein Glückstag für die Deutschen. Auch wenn es bis heute Menschen gibt, die sich die Mauer zurückwünschen oder ihre historische Eklave Westberlin: Das wiedervereinigte Deutschland ist ein Glücksfall der Geschichte. Die Reichsprogromnacht ist es wahrlich nicht, der Fall der Monarchie kann unterschiedlich ausgelegt werden. Deshalb würde ich mich nicht auf einen Schicksalstag festlegen wollen.
Es ist ein markantes Datum mit Ereignissen, die Höhen und Tiefen der deutschen Geschichte markieren. Dass sie alle auf den 9. November fallen, ist ein Zufall. Genauso sollten wir es bewerten und jedem Ereignis für sich den Stellenwert beimessen, den es für unsere Geschichte hat.

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