Influencer-Inszenierung: Zwischen Selbstdarstellung und Realität
Meine Generation wuchs ohne Social-Media auf. Dem entsprechend bin ich etwas älter und frage mich, ob die eine oder andere Influencer-Inszenierung wirklich der Wahrheit entspricht. Perfekte Beziehungen, abrupte Dramen, Trennungen und Versöhnungen – das Leben schreibt solche Geschichten, doch für mich fühlt es sich oft an, wie eine Selbstinszenierung. Dabei werden die Grenzen des guten Geschmacks häufig überschritten. Besonders traurig mutet ein Fall an, bei dem eine junge Frau ihr Baby nach einem Tritt in den Bauch verlor. Es ist ein Schicksal, das betroffen macht. Wenn es denn stimmt. Klar ist: Mit einem solchen Schicksal spielt man nicht. Die Community diskutiert, ob die Geschichte wahr sein könnte. Eine Antwort kann nur die junge Frau geben. Ich möchte einen kritischen Blick auf solche Fälle werfen – und fragen, wie weit Selbstinszenierung heute gehen darf.

Gewalt gegen Frauen – ein gesellschaftliches Problem
Leider kommt Gewalt gegen Frauen in Deutschland häufiger vor: Im Jahr 2023 wurden 180.715 Frauen Opfer häuslicher Gewalt. Das ist ein Anstieg um 5,6 % gegenüber dem Vorjahr. Darüber hinaus gab es 52.330 weibliche Opfer von Sexualstraftaten, was einer Zunahme von 6,2 % entspricht. Die Zahl der versuchten oder vollendeten Femizide lag im gleichen Jahr bei 938, mit 360 Todesopfern.
Tritt in den Bauch einer Schwangeren – die möglichen Folgen
Das Baby ist im Mutterleib gut geschützt. Es liegt von den starken Muskeln der Plazenta umgeben in seinem Fruchtwasser: Es federt Erschütterungen wirksam ab. Und so nimmt ein Großteil der Schwangerschaften ein gutes Ende, auch dann, wenn es zu einem Sturz oder einem Unfall gekommen ist.
Ein Tritt gegen den Bauch während der Schwangerschaft ist eine Gewalttat, die zu schweren Komplikationen führen kann. Dazu zählen eine Ruptur des Uterus, eine vorzeitige Ablösung der Plazenta oder ein fetaler Schock. Der Tod des Babys kann eine Folge sein.
Es gibt keine Zahlen darüber, wie oft Schwangere Gewalt erfahren, die sich gegen den Bauch richtet. Ebensowenig gibt es Erhebungen, wie viele Babys diese Gewalttat nicht überleben. Sicher ist, dass es sich wegen der sicheren Lage des Babys im Mutterleib um eine wirklich schwere Verletzung handeln muss. Niemals ist es harmlos, wenn jemand den Bauch einer Schwangeren attackiert. Doch der Verlust des Babys ist die schwerwiegendste Folge, die dementsprechend strafrechtlich geahndet wird.
Die Mordkommission ermittelte
Ich habe gezielt nach Fällen recherchiert, in denen Schwangere nach der Einwirkung von Gewalt ihr Baby verloren hatten. Besonders interessierte mich, ob das ungeborene Kind im Sinne der Rechtssprechung bereits lebt. Dann würde es sich um Mord oder Totschlag handeln. Sollte es noch nicht als lebendes Opfer betrachtet werden, würde bei der Bemessung der Strafe die Gewalt gegen die Mutter im Vordergrund stehen.
Von einem Fall wurde im Jahre 2004 in der Rheinischen Post berichtet, der Artikel kann bis heute abgerufen werden. Mehrere Jugendliche überfielen ein junge Frau und übten mit einem Baseballschläger gezielte Gewalt gegen den Bauch der werdenden Mutter aus. Das Kind starb in der 22. Schwangerschaftswoche. Im Artikel steht, dass die Mordkommission ermittelte. Ob es diese Ermittlungen wegen des toten Babys oder der schweren Verletzungen der jungen Frau gab, ließ der Artikel offen.Fakt ist: Es handelt sich um eine Straftat, die in jedem Fall die Gerichte beschäftigt.
Was ist eine stille Geburt?
Von einer „stillen Geburt“ spricht die Medizin, wenn das Kind plötzlich im Mutterleib verstirbt und von der Frau auf natürlichem Wege geboren werden muss. Es gibt auch Kinder, die während oder kurz nach der Geburt versterben. Glücklicherweise kommt die stille Geburt dank der modernen Medizin selten vor. Die Gründe sind vielfältig: Das Kind wurde im Mutterleib nicht richtig versorgt, es hatte eine schwere Missbildung oder die Wehen setzten so früh ein, dass das Kind nicht lebensfähig war. Auch Geburtsfehler oder eine Erkrankung der Mutter kann eine Totgeburt, so die alternative Bezeichnung, zur Folge haben.
Im Zusammenhang mit einer schweren Straftat spricht man in der Regel nicht von einer „stillen Geburt“, sondern von dem Tod des Babys im Mutterleib aufgrund von schwerer Gewalt. Oftmals ist es notwendig, die Schwangerschaft durch eine Operation zu beenden, weil die Einleitung einer „stillen Geburt“ der Mutter nicht zugemutet werden kann oder weil sie gar nicht möglich ist.
Influencer-Inszenierung oder Schicksalsschlag?
Nun hat eine Influencerin eine „stille Geburt“ nach einem Tritt in den Bauch erlitten. Es handelt sich um eine junge Frau, der eine Million Menschen auf Instagram folgen. Sie ist durch Reality-TV bekannt geworden und aufgrund ihres Verhaltens nicht unumstritten. Follower zweifelten ihre Schwangerschaft an: Die Geschichte mit der Gewalttat spaltet die Community. Was wirklich passiert ist, weiß nur die junge Frau selbst.
Mit dem Abstand, den ich aufgrund meines Alters zu den Stars und Sternchen auf den Social-Media-Kanälen habe, möchte ich diese Story nicht infrage stellen. Ich möchte sie aber hinterfragen: Handelt es sich um eine Influenzier-Inszenierung, was außerordentlich geschmacklos wäre, oder ist die Geschichte wirklich passiert. Und wenn ja, warum passt der Umgang damit so gar nicht zu dem Bild, das die junge Frau in der Vergangenheit von sich zeichnete?
Die Selbstdarstellung in sozialen Medien
Influencer sind Meister in der Selbstdarstellung, wobei die Ausrichtung sehr verschieden sein kann: Die einen berichten täglich von ihren Sporteinheiten, von gesunder Ernährung, die sie in der blitzsauberen Küche selbst kochen, von Abnehmshakes, Tees und getrockneten Früchten. Die Produkte sollen – mit Rabatten, aber dennoch überteuert – in Onlineshops erworben werden.
Andere erzählen von ihrem perfekten Familienleben mit dem Partner, den Kindern und dem Hund. Es gibt nie Streit, das gemeinsame Leben ist Bullerbü, man fährt shoppen, in den Urlaub, schaut Serien oder wirft mit Freunden den Grill an. Ja, es gibt Trennungen. Aber die verlaufen immer in Freundschaft. Man möchte doch gemeinsam für die Kinder da sein. Meistens kommen diese Trennungen aus heiterem Himmel, denn es war ja immer alles rosarot.
Ziel des ganzen Aufwandes sind hohe Followerzahlen: Je mehr Menschen sich die täglichen Posts anschauen, desto höher ist der Marktwert und desto mehr zahlen Firmen für eine Story oder ein Reel, mit dem Produkte beworben werden.
Aufmerksamkeit um jeden Preis
Um Aufmerksamkeit zu generieren, ist nahezu jedes Mittel recht. Wenn es mit dem rosaroten Ponyhof und dem Traumbody durch den besten Shake der Welt nicht klappt, müssen Dramen herhalten. So trennte sich ein Influencer-Pärchen ein paar Monate vor der Hochzeit für zwei Tage, weil er mit anderen Frauen eine Nacht verbracht haben sollte. Was die Frauen der Verlobten in einer persönlichen Nachricht auf Social Media verklickerten.
Ein getrenntes Pärchen trägt seit Jahren die Befindlichkeiten des gemeinsamen Sohnes in die Öffentlichkeit. Ein Musiker mit grauem Haar, dessen Karriere auf die Jugend ausgerichtet war und den Zenit überschritten hatte, bekommt mit seiner Frau sieben Kinder und überlässt ihr die Vermarktung der gesamten Familie, während er sich aufs Altenteil zurückzieht.
Wenn das erlittene Schicksal unglaubwürdig ist
Ja, und dann gibt es noch die geschmacklosen Storys, die laut, schrill und unglaubwürdig sind. Eine solche Geschichte erzählt eine junge Frau ihren Followern, die mit Dating-Shows und Crash-Formaten bekannt wurde, vor laufenden Kameras einen anderen Kandidaten schlug, sodass sie aus der Show geworfen wurde: Die einen „gemachten“ Körper zeigt, in Dubai lebt und schon die eine oder andere öffentliche Beziehung hatte, mit dramatischem Ende, wohlgemerkt.
Im Dschungelcamp warf die junge Frau ein Auge auf ihren Ex-Freund, um ihn dann bei jeder Gelegenheit bloßzustellen, weil er ihr einen Korb gab. Kein Jahr später war sie verlobt – natürlich in einen Reality-Darsteller. Die Schwangerschaft wurde bekannt gegeben, kurz darauf die Trennung und die Lösung der Verlobung, dann folgte die „stille Geburt“, weil der werdenden Mutter jemand in den Magen getreten hatte. Für mich, die ich das Drama nur über die Presseberichte verfolge, ist dieses ganze Leben eine einzige Inszenierung.
Perfekt gestylt verkündet eine Mutter die Stillgeburt ihres Kindes
Die stille Geburt eines Kindes, gerade, wenn sie auf einen Gewaltakt folgt, ist ein traumatisches Ereignis für jede werdende Mutter. In der Regel liegt sie im Krankenhaus und braucht Zeit und therapeutische Hilfe, um zu genesen und sich von dem Schicksalsschlag zu erholen. In der Welt der Influencer reicht die Kraft aus, um perfekt gestylt, mit betretenem Dackelblick, ein Statement abzugeben.
Dabei hatte die junge Frau das Ereignis gar nicht selbst verkündet: Das übernahm der Ex-Verlobte und Vater des Kindes, mit dem sie sich in den Wochen zuvor eine öffentliche Schlammschlacht lieferte. Nun glauben viele Follower der jungen Frau nicht. Das kann ihr gegenüber ungerecht sein, nämlich dann, wenn es stimmt, dass sie ihr Kind verloren hat.
Wer sich jedoch ihren Weg durch die Trash-Welt anschaut, kann die zweifelnden Follower gut verstehen. Zumal die medizinische Komponente, die ich eingangs versuchte zu recherchieren, nicht unbedingt dafür spricht, dass eine Schwangere nach einem „Tritt in den Magen“ ihr Baby verliert. Der Magen befindet sich weit über der Gebärmutter, die Schwangerschaft war noch nicht sehr weit fortgeschritten.
Nur ein Foto vom Babybauch?
Eine Schwangerschaft wird in der Welt der Influencer in der Regel sehr intensiv dokumentiert. Begleitet von Werbung für Kinderwagen, Luxusmode für Babys, Babymöbel, und was junge Mütter noch so alles benötigen. Wer eine Million Follower nachweisen kann, würde von Babyausstattern mit Anfragen überhäuft werden. Doch diese werdende Mutter hielt sich zurück: Es gab nur ein einziges Foto von dem Babybauch. Angeblich aus Angst vor „Hasskommentaren“. Sollte derartige Angst nicht ein entscheidender Grund für einen Berufswechsel sein?
Die Schwangerschaft verschwand faktisch hinter dem Drama um die Verlobung mit gegenseitigen Schuldzuweisungen. All das machte die Follower stutzig. Das abrupte Ende der Schwangerschaft überraschte somit nicht. Der Tritt in den Magen wird ebenso angezweifelt wie die gesamte Geschichte. Die mehrheitliche Forderung lautet, der Influencerin und Reality-Darstellerin keine Plattform mehr zu geben.
Mit dem Schicksal spielt man nicht
Ich schließe mich der Forderung an, obwohl ich weder eine Followerin bin – und auch keine werden könnte, denn der Account der jungen Dame ist privat. Auch das ist sehr ungewöhnlich, in der Influencer-Welt. Und ich schließe mich an, weil ich der Meinung bin, dass hier nicht nur die Schwelle des guten Geschmacks überschritten wurde: Alles im Leben sollte Grenzen haben. Und dieser jungen Dame sollten die Follower jetzt ihre Grenzen aufzeigen.
Man spielt nicht mit dem Schicksal von jungen Frauen, die eine stille Geburt erleiden müssen. Dabei spielt es für mich gar keine Rolle, ob die Influencerin die Wahrheit sagt oder nicht. Selbst, wenn es sich so zugetragen hat, wie sie es behauptet: Selbst wenn ein Tritt in den Magen im zweiten Drittel der Schwangerschaft eine stille Geburt auslösen könnte: So geht man damit nicht um. Der Respekt vor dem Leid der Frauen, die so etwas im wahren Leben ertragen müssen, verbietet das!
Rückzug – nicht nur auf Raten
Ein dauerhafter Rückzug würde dieser jungen Frau gut tun. Warum? Weil ihre Geschichte so unglaubwürdig ist, dass sie im Grunde gar nicht stimmen kann.
1. Die Klatschpresse hätte sofort berichtet. Das Drama wäre im Minutentakt gepostet worden. Die Kripo würde ermitteln, es gäbe einen Polizeibericht, eventuell eine Suche nach dem Täter. Von all dem war nirgendwo etwas zu lesen. Abgesehen davon hält eine Schwangerschaft einen Tritt in den Magen in der Regel aus.
2. Es hätte stündlich neue Updates vom Babybauch gegeben … das machen alle Influencer so.
3. Diese junge Dame will in ihrem Leben Fame, Klicks und Geld, aber mit Sicherheit kein Baby. Und deshalb wird sie zu verhindern wissen, dass sie schwanger wird.
Ganz wesentlich ist aber der Umgang mit ihrer Geschichte: Sie wollte nicht, dass ihr Ex-Verlobter das veröffentlicht, aber sie nimmt es hin, um sich dann medienwirksam zu präsentieren. Von einem Trauma, von Schmerz oder Angst war im Gesicht der Influencerin nichts zu sehen. Sie hätte genauso gut über eine neue Teesorte berichten können, die ihr nicht geschmeckt hat, oder über den Diebstahl ihres Handys.
Die Follower und die Medienlandschaft haben es nun in der Hand, der jungen Dame keine Plattform mehr zu geben. Dann verschwindet sie, und es wird keine Neuauflage einer ähnlichen Story geben. Wenn es so weitergehen darf, lesen Interessierte bald eine neue Geschichte. Sie wird die Stillgeburt übertreffen, denn eine Steigerung muss sein. Möchten die Follower das wirklich?
Das Beispiel Chrissy Teigen
Das US-amerikanische Model Chrissy Teigen verlor im Jahre 2022 ihr drittes Kind von dem Musiker John Legend, mit dem sie verheiratet ist. Auf den sozialen Medien erzählte sie auf dem Krankenbett, in Tränen aufgelöst, von dem Verlust ihres Sohnes Jack. Später gab sie zu, dass es keine klassische Fehlgeburt war: Sie musste aufgrund von Komplikationen eine Abtreibung vornehmen lassen. Ihren Schmerz dokumentierte sie in einem Blog. Ein Jahr später bekam sie eine gesunde Tochter und ein weiteres Mädchen, das von einer Leihmutter zur Welt gebracht wurde.
Chrissy Teigen hat 42 Millionen Follower auf Instagram, ihr Mann ist ein weltweit erfolgreicher Musiker. Es wurde nicht bekannt, dass die breite Mehrheit die Geschichte angezweifelt hat. Ich möchte auch keinen direkten Vergleich zwischen einem, wie es scheint, stabilen Familienkonstrukt eines Musikers und eines Models mit einem Trash-TV-Sternchen herstellen. Aber die Veröffentlichung dieses Schicksals zeigt, wie eine Frau damit umgeht, die leidet. Das war bei der deutschen Influencerin nicht ersichtlich.
Wenn Selbstdarstellung und Realität ineinander verschwimmen
Grundsätzlich ist jeder Influencer ein Selbstdarsteller. Dagegen ist auch nichts einzuwenden: Der dem Siegeszug sozialer Medien wie TikTok und Instagram hat sozusagen eine neue Berufsgruppe geschaffen. Influencer unterhalten. Sie bringen uns ihr Leben nahe, ihren Beruf, ihre Familie, ihre Aktivitäten: Meine Generation stellt nicht die Zielgruppe, doch meine Kinder und Enkel folgen einigen Idolen. Es ist ein Teil ihrer Freizeitgestaltung. Wir haben Hitparade, Dallas und Denver Clan geschaut. Somit gehört es einfach dazu.
Wenn Selbstdarstellung und Realität aber in einer so geschmacklosen Weise miteinander verschwimmen, ist eine Grenze überschritten. Und das darf nicht passieren. Die Follower, aber auch die TV-Anstaltung und Unternehmen, die mit Influencern werben, haben es in der Hand: Wenn niemand mehr zuschaut, wenn es keine Buchungen und keine Aufträge mehr gibt, hat die Selbstdarstellung ein Ende. Doch wenn niemand hinter die Fassade schaut, wird es immer so weiter gehen: Wenn eine Geschichte, bei der eine junge Mutter ihr Baby durch einen Tritt in den Magen verliert, auf diese Weise vermarktet wird: Was kommt als Nächstes?
Die verkaufte Seele
Wehret den Anfängen, sagte meine Großmutter gern. Es ist ein Sprichwort, das heute kaum noch jemand kennt, aber es hat seinen Wahrheitsgehalt nicht verloren: Wehren wir uns gegen Geschichten wie von Selbstdarstellern, die bereit sind, ihre Seele zu verkaufen, Koste es, was es wolle. Wir profitieren davon nicht, und der Selbstdarsteller erst recht nicht. Fast würde ich sagen:
Die junge Frau kann einem leid tun, sie sollte sich Hilfe suchen. Aber das erkennt sie erst, wenn ihre Plattform und ihr zweifelhafter Ruhm versiegen. Davon würden alle profitieren: Ihre Follower, die sich nicht mehr über solche Geschichten entzweien müssen, Blogger wie ich, die sich anderen Themen widmen können, und die junge Frau selbst: Vielleicht schafft sie es, ihr Leben in eine andere Bahn zu lenken. Es wäre ihr zu wünschen.

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